Vom Auslöser zur Auflösung: Das innere Gerüst jeder Geschichte

Natürlich, jeder halbwegs zurechnungsfähige Mensch, der sich ans Schreiben macht, trägt vorher eine Geschichte im Kopf herum. Oder wenigstens ein Gefühl. Ein Bild. Einen Satz, den jemand gesagt hat und der hängen blieb wie Zigarettenrauch in der Jacke. Die Frage ist nur: Hat diese Geschichte auch das Zeug, ein Buch zu werden? Oder ein Film, ein Fernsehspiel, eine Folge in dieser Serie, bei der alle behaupten, sie hätten sie schon gesehen, obwohl sie immer nur die Memes kennen?

Der Aufhänger

Zuerst: der Haken. Nicht der in der Kehle – der im Text. Der Moment, in dem jemand, der eigentlich nur kurz blättern wollte, plötzlich sitzt, liest, vergisst, dass die Bahn längst fährt. Professionelle Leser – Lektorinnen, Produzenten, Dramaturgen mit Augenringen aus Blei – haben keine Geduld für Nettigkeiten. Wenn du sie auf Seite zwanzig nicht hast, hast du sie gar nicht. Und normale Menschen? Die blättern kurz rein, legen das Buch zurück ins Regal und greifen zu irgendwas mit einem geheimnisvollen Mädchen am Fenster. Man kann es ihnen nicht verübeln.

Also: Gib ihnen einen Grund, nicht weiterzublättern. Gib ihnen einen Aufhänger. Und sorg dafür, dass er hält.

Die Beleidigung

Und dann: die Beleidigung. Ein wunderbares Wort für das, was den Stein ins Rollen bringt. Es muss etwas passieren. Etwas, das die Welt der Figur aus dem Takt bringt – sie kratzt, stört, einbricht, entgleitet. Vielleicht wird sie bestohlen. Vielleicht angelogen. Vielleicht verliebt sie sich in jemanden, den sie nicht leiden kann. Der Klassiker: Junge trifft Mädchen, verliert Mädchen, kriegt sie wieder. Aber eben nicht, weil das Schicksal so ein Romantiker ist, sondern weil es Spaß daran hat, alles einmal gründlich durcheinanderzuschütteln.

Das Auslösende kann geplant sein – „Ich zieh jetzt los und rette die Welt.“ Oder komplett zufällig – „Ich war nur zum Rauchen draußen, ehrlich.“ Wichtig ist: Die Geschichte nimmt Fahrt auf.

Held und Widerspiel

Wo ein Wille ist, ist auch ein Gegenspieler. Held und Antagonist brauchen beide einen Plan. Nicht notwendigerweise genial – aber klar. Und sie müssen einander damit in die Quere kommen wie zwei Leute mit Regenschirm in einem schmalen Hausflur. Jeder Schritt des einen provoziert einen Gegenschritt des anderen. Das erzeugt Bewegung. Widerstand. Und Reibung. Und Reibung – du ahnst es – erzeugt Wärme.

Konflikt

Ohne Konflikt kein Drama. Ohne Drama keine Geschichte. Ohne Geschichte – na ja, dann sind wir zurück bei Katzenvideos und Wetterberichten. Konflikt ist nicht bloß Streit. Es ist das Aufeinanderprallen von Kräften, die nicht gleichzeitig wahr sein dürfen. Das kann Mann gegen Frau sein. Oder Mensch gegen Berg. Oder Teenager gegen WLAN-Ausfall. Wichtig ist nur: Es zieht sich durch. Und es geht unter die Haut.

Wendepunkte

Dann kommen die Kurven. Die Wendepunkte. Das sind die Momente, in denen die Geschichte nicht einfach weitergeht, sondern plötzlich woanders hin will. Der erste sollte früh kommen – noch im ersten Akt, noch bevor man denkt: „Aha, darum geht’s.“ Der zweite und dritte Wendepunkt führen tiefer hinein – in Komplikationen, Zweifel, Verluste. Das Ziel entfernt sich. Und genau das ist gut. Denn nur wer sich verläuft, kann sich finden.

Der Moment der Wahrheit

Und irgendwann – meistens wenn’s wehtut – kommt der Moment der Wahrheit. Die Figur steht am Abgrund. Nicht bildlich. Sondern wirklich. Sie kann zurück. Oder springen. Aufgeben. Oder – und das ist der Punkt – sich erinnern, wer sie eigentlich ist. Oder wer sie hätte sein können. Und plötzlich wächst etwas in ihr, das nie laut war, aber immer da. Der Moment, in dem sie größer wird als ihr Schmerz.

Nicht, weil sie sich verwandelt. Sondern, weil sie sich erinnert.

Die Auflösung

Am Ende kommt die Auflösung. Nicht immer glücklich, aber stimmig. Vielleicht hat die Figur bekommen, was sie wollte. Vielleicht erkennt sie, dass das, was sie wollte, gar nicht wichtig war. Vielleicht bleibt etwas offen – ein leiser Ton, ein schiefer Blick, ein Versprechen, das nicht mehr eingelöst werden kann. Aber etwas ist passiert. Es war nicht umsonst.

Und wenn du das geschafft hast – den Bogen, die Beleidigung, den Konflikt, die Wendung, das Wachsen, das Loslassen – dann hast du nicht nur eine Geschichte erzählt.
Du hast jemandem für einen Moment das Gefühl gegeben, dass alles einen Sinn ergibt. Wenn auch nur auf Seite 87.