Autor: drehbuchninja

  • Action & Abenteuer – Notizen aus dem Maschinenraum des Spektakels

    Gleich hinter dem ewigen Duo aus Verbrechen und Komik, gut geschüttelt, manchmal auch gerührt, liegt das Reich der Action- und Abenteuergeschichten. Ein Genre wie ein Taschenmesser: vielseitig, scharfkantig, manchmal unterschätzt. Es kann historisch sein, wenn sich ein Staubkorn auf einer römischen Sandale zum Drama auswächst – oder gegenwärtig, wenn es zwischen U-Bahn-Schächten und Yachthäfen ordentlich rummst.

    Hier findet alles Platz, was nach Schweiß, Gefahr und Adrenalin riecht: Western mit staubigen Pferdeherden und noch staubigeren Moralvorstellungen. Kriegsfilme, bei denen man fast den Pulverdampf schmeckt – oder wenigstens das Pathos. Feuerwehrleute, die sich ins Inferno stürzen, während im Hintergrund ein sentimentales Cello zu keuchen beginnt. Schatzjäger mit hübscher Staublunge. Archäologen, die versehentlich Dämonen erwecken. Großwildjäger, die wahrscheinlich dringend einen Therapeuten brauchen. Piraten, Spione, Skydiver, Bullfighter, sogar Rennfahrer – allesamt Gladiatoren im Business der Unterhaltung.

    Die Klassiker? Ben Hur schleift seine Quadriga durch das kollektive Gedächtnis, Die drei Musketiere fuchteln mit der Grandezza pubertierender Fechter, Robin Hood übt sich im moralisch motivierten Diebstahl, und Der Graf von Monte Christo zeigt uns, wie sich eleganter Rachefeldzug buchstabiert. Und natürlich: Die Schatzinsel – ein Film, der in jedem Alter funktioniert, besonders, wenn man beim Zuschauen heimlich Chips isst.

    Klar, dass man da auch Sylvester Stallone und Arnold Schwarzenegger nicht unter den Tisch fallen lässt. Diese Männer haben mehr in die Luft gejagt als die Meteorologie zu zählen vermag – und dabei meist das halbe Drehbuch gleich mit. Spielberg? Der hat uns beigebracht, dass selbst ein simpler Bagger eine archäologische Sensation auslösen kann – wenn nur das Licht stimmt.

    Katastrophen – der große Gleichmacher

    Wenn der Himmel brennt oder der Boden bebt, wenn das Wasser steigt oder ein Flugzeug fällt – dann, ja dann wird’s interessant. Die große Kunst der Katastrophengeschichte liegt darin, das Spektakel mit einem Tröpfchen Menschlichkeit zu würzen. Ein paar Tränen, ein Hund, der es knapp schafft, und der Zuschauer fühlt sich plötzlich sehr lebendig – und äußerst sicher auf seiner Couch.

    Filme wie Flammendes Inferno oder John Wick oder Avengers beweisen, dass der beste Moment für Mitgefühl jener ist, in dem alles auseinanderfällt.

    Hier ein Katalog potenzieller Untergänge, alle bereit für ihr Debüt in Dolby Surround:

    • Flugzeugabsturz
    • Flut
    • Lawine
    • Waldbrand
    • Schneesturm
    • Hitzewelle
    • Gebäudeeinsturz
    • Hurrikan
    • Höhleneinsturz
    • Erdrutsch
    • Kältewelle
    • Schlammlawine
    • Seuche
    • Schiffbruch
    • Dürre
    • Terroranschlag
    • Erdbeben
    • Tsunami
    • Epidemie
    • Tornados
    • Explosion
    • Zugunglück
    • Hungersnot
    • Taifun
    • Feuer
    • Vulkanausbruch

    Es ist ein wenig wie beim Roulette der Apokalypse: Man setzt auf eine Katastrophe – und hofft auf einen emotionalen Jackpot.

    Helden aus Fleisch, Blut und Sprengstoff

    Natürlich braucht jedes Desaster seine Hauptfiguren. Ohne Menschen, die rennen, schreien, retten oder zumindest den richtigen Satz sagen, bleibt selbst die größte Explosion bloß Pyrotechnik.

    Hier eine kleine Parade der Mutigen, Verschrobenen und gelegentlich Überforderten:

    • Anti-Terror-Spezialisten, die beim Frühstück noch Cornflakes essen, beim Mittagessen schon eine Stadt evakuieren
    • Sanitäter mit Trauma-Erfahrung
    • Bodyguards, die auch mal Gefühle haben, wenn keiner hinschaut
    • Piloten mit tragischer Vergangenheit und stabilem Kinn
    • Rennfahrer mit Todessehnsucht
    • Küstenwächter mit moralischer Rigorosität
    • Gegenspione in moralischer Grauzone
    • Cowboys, die mehr mit sich selbst kämpfen als mit Banditen
    • Taucher, Kapitäne, Ski-Patrouillen, Soldaten, Sprengstoffexperten, Spione, Bombenentschärfer, Bergsteiger, Testpiloten – eine Schar aus Körpern in Bewegung, aus Willen, der sich gegen Chaos stemmt.

    Und natürlich: Terroristen. Ohne sie wäre vieles einfacher – aber auch langweiliger.

    Mögliche Geschichten – von fein gesponnen bis grobschlächtig

    • Ein Flugzeug stürzt in den Bergen ab. Zehn Überlebende, alle blind. Ein Sturm naht. Und die Frage ist nicht, ob sie überleben – sondern ob sie lernen, sich selbst zu sehen.
    • Drei Häftlinge brechen aus. Sie hassen sich. Sie brauchen sich. Das ergibt Gesprächsbedarf – und möglicherweise eine neue Ethik hinterm Maschinengewehr.
    • Ein Doppelagent weiß, dass jemand ihn töten will. Er weiß nur nicht, wer. Willkommen im Club der schlaflosen Nächte.
    • Terroristen nehmen ein Dorf ein. Das nächste Gefängnis liegt fünf Meilen entfernt. Dort sitzen Männer mit Fähigkeiten – und fragwürdiger Moral.
    • Drei Söldner suchen einen Mann, der eine Frau retten kann, die wiederum die Ehefrau eines dieser Männer ist. Klingt kompliziert. Ist es auch.
    • Ein Bakterium gelangt in die Stadt. Der Überbringer stirbt. Die Seuche verbreitet sich. Und mit ihr: das Misstrauen.
    • Zwei rivalisierende Gruppen tauchen ab – wortwörtlich – auf Schatzsuche in einem Meer voller Haie. Der eigentliche Feind? Wahrscheinlich sie selbst.

    Das alles ist mehr als nur Krach und Krawall. Es sind moderne Mythen in Neonlicht getaucht, vollgepackt mit Schmerzmitteln, Sprachwitz, moralischen Abkürzungen und gelegentlicher Hoffnung. Action/Adventure – das ist, wenn der Mensch sich bewegt, weil die Welt es verlangt. Und manchmal, nur manchmal, weil er selbst nicht stillstehen kann.

  • Echt spannend!

    Spannung im Film – das ist nicht einfach das Zittern vor dem Unbekannten oder das Daumendrücken vor dem großen Knall. Nein, sie ist das leise, manchmal quälende, manchmal köstliche Vorwissen, dass etwas – etwas Bedeutendes, etwas Schmerzhaftes oder Wunderbares – passieren wird. Oder könnte. Oder eben auch nicht. Sie ist ein Gespenst mit einem Kalender in der Hand. Und dieser Kalender zeigt auf eine Seite, die man lieber nicht aufschlagen will. Oder unbedingt.

    Man stelle sich vor: Zwei Autos rasen aufeinander zu. Noch ist alles ruhig – ein Sonntag vielleicht. Doch wer hinsieht, spürt es schon: da kommt was. Und zwar nicht irgendein Etwas. Die Spannung liegt nicht im Knall, sondern im Davor. In der Vorstellung. In der Ahnung. In dem bittersüßen Moment zwischen dem Wissen und dem Zweifel. Dieses feine Ziehen zwischen „Es muss so kommen“ und „Bitte nicht“.

    Begriff der Spannung

    Was wir Spannung nennen, ist also keine Nervenkitzelmaschine mit vorhersagbarem Ablauf. Vielmehr ein zartes und doch beharrliches Konstrukt aus Vorfreude, Sorge und – seien wir ehrlich – einer gewissen Lust am Drama. Ein guter Film ist wie ein Organismus, der seinen eigenen Pulsschlag kennt – und dem Zuschauer einredet, dieser Puls sei sein eigener.

    Realismus, dieser selbstgerechte Sachbearbeiter des Erzählens, hat dem Wort „Spannung“ viel Ungemach beschert. Als wäre alles, was uns wirklich berührt, immer sofort und ohne Umwege ein Thriller. Aber das stimmt nicht. Spannung braucht keine Explosion. Manchmal reicht eine Gabel auf einem Teller, die ein wenig zu laut klirrt. Oder ein Blick, der zu lange hält. Oder eine Tür, die offen steht. Warum steht sie offen?

    Die eigentliche Spannung entsteht im Spalt zwischen Erwartung und Zweifel. Man glaubt, etwas kommt. Und man fürchtet, dass es nicht kommt. Oder schlimmer: dass es doch kommt. Diese Gleichzeitigkeit von Gewissheit und Unsicherheit ist der Knoten, an dem sich unser Innerstes aufhängt. Wer je auf eine Diagnose gewartet hat oder auf ein Ja, das zum Nein werden könnte, weiß: Spannung ist kein Spiel. Es ist eine Form der Existenz.

    Steigerung der Spannung

    Aber was macht sie nun stark, diese Spannung? Woran misst man ihr Gewicht, ihre Zugkraft? An drei Dingen, würde ich sagen: Erstens – Bedeutung. Zweitens – Nähe. Drittens – Fallhöhe.

    Bedeutung meint: Es muss um was gehen. Richtig um was. Idealerweise um alles. Leben und Tod, wenigstens im übertragenen Sinn. Wenn unser Held nur seine Uhr sucht, gähnen wir. Wenn er sie sucht, weil sie das letzte Geschenk seiner toten Mutter war – schon besser. Wenn er sie sucht, während das Haus anfängt zu brennen – da sind wir dabei.

    Nähe heißt: Es muss uns betreffen. Direkt oder durch empathische Osmose. Wenn der Falsche angeklagt ist, wenn eine Geliebte flieht, wenn eine Wahrheit auf der Kippe steht – das sind keine fremden Schicksale mehr. Das sind unsere.

    Und schließlich die Fallhöhe. Zwischen Triumph und Abgrund muss Raum sein für das ganze Theater der Möglichkeiten. Wer alles gewinnen kann, kann auch alles verlieren. Nur so kommt Schwung in die Sache.

    Bangspannung und Getrostspannung

    Aber nicht alle Spannung fühlt sich gleich an. Es gibt sie in Moll und in Dur. Die eine krallt sich bange in die Eingeweide, die andere schwingt sich getrost in die Hoffnung auf. Aristoteles nannte das mal „Jammer und Schaudern“ – klingt heute vielleicht altmodisch, trifft aber ins Schwarze. Bangspannung lässt uns das Schlimmste ahnen. Getrostspannung das Beste hoffen. Und kluge Geschichten spielen mit beidem, wie ein Pianist mit schwarzen und weißen Tasten.

    Ein Noir-Film will wissen: Kann diese kaputte Welt noch einmal heil werden? Eine Romanze fragt sich: Wird sie kommen – und wenn ja, wird er noch da sein? Der Ton macht die Spannung: düster, beschwingt, zynisch, melancholisch. Alles erlaubt. Nur langweilig darf es nicht werden.

    Wie entsteht Spannung?

    Spannung beginnt nicht im Moment des Knalls, sondern weit davor. Sie beginnt mit einer Idee. Einem Verdacht. Einem Bild. Zwei Autos. Eine Straße. Ein Kind am Rand. Die Ahnung zündet die Zündschnur. Und dann heißt es: Warten.

    Ein häufiger Irrtum ist die Idee, Spannung sei Überraschung. Ist sie nicht. Überraschung ist ein Trick. Spannung ist ein Versprechen. Wer Überraschung mit Spannung verwechselt, hat entweder nie Hitchcock gesehen oder zu viel von Shyamalan.

    Gute Spannung wächst. Organisch. Sie schleicht sich an, sie ruht, sie lockt, sie dreht sich um. Und manchmal zwinkert sie einem zu, um dann in die andere Richtung zu gehen. Ihre Phasen sind klar: Etwas steht bevor. Dann kommen Zweifel. Dann Verwicklungen. Und schließlich die unausweichliche Entscheidung. Kein Fluchtweg mehr offen. Kein doppelter Boden. Nur noch: Jetzt.

    Spannung vertiefen

    Je tiefer die Emotion, desto größer die Spannung. Das ist keine Esoterik, sondern dramaturgische Grundschule. Wenn wir jemanden lieben, der in Gefahr ist – zittern wir. Wenn der Feind gewinnt, den wir hassen – brodelt es. Wenn wir nicht wissen, ob wir hassen oder lieben sollen – brennt es.

    Ein Film, der Spannung will, muss investieren: in Figuren, in Konflikte, in moralische Dilemmata. Denn je mehr wir spüren, was auf dem Spiel steht, desto weniger wollen wir wegsehen. Wer gewinnt? Wer verliert? Und: Was verlieren wir, wenn der Falsche gewinnt?

    Vorbereitung des Ungewöhnlichen

    Spannung hat auch einen didaktischen Nebeneffekt: Sie macht das Abwegige plausibel. Wenn ich weiß, dass ein Mann Stimmen hört, ist es weniger abwegig, wenn plötzlich der Tisch spricht. Wer Spannung beherrscht, darf exzentrisch sein. Darf Geister bringen, übernatürliche Wendungen, irre Visionen – solange sie eingeläutet wurden wie eine Messe. Shakespeare konnte das. Wir dürfen’s versuchen.

    Haupt- und Unterspannung

    Und schließlich – die Hierarchie der Spannungen. Es gibt die große, tragende Spannung: Wird Hamlet endlich handeln? Wird die Welt gerettet? Wird der Mörder enttarnt? Und dann gibt es die kleinen: Kommt sie zur Verabredung? Wird das Auto anspringen? Bleibt das Licht aus?

    Jede Szene trägt ihre eigene Miniatur-Spannung, eine Perle an der Kette. Und wie bei einer guten Kette – wenn eine fehlt oder falsch glänzt, merkt man’s. Das große Ganze lebt von den kleinen Teilen. Und der Zuschauer – dieses wundervolle, skeptische, leicht abzuschreckende Wesen – merkt sofort, ob du weißt, was du tust.

    Also: Spannung. Sie ist nicht der Lärm. Sie ist das Lauschen davor. Und das Kribbeln danach. Wer sie beherrscht, braucht keine Explosion. Nur einen Satz, der falsch klingt. Oder zu richtig.

  • Abkupfern …

    Man stelle sich vor: Da sitzt ein Autor, ein leeres Blatt vor sich, der Kaffee wird kalt, und plötzlich zuckt ein Gedanke durchs Hirn wie ein Stromstoß – ein anderer hat das doch auch schon mal so ähnlich erzählt. Und siehe da: stimmt. Wurde schon gemacht. Oft. Vielleicht besser. Vielleicht schlechter. Auf jeden Fall: bekannt.

    Was tun? Klauen? Natürlich nicht. Wer ungefragt Figuren, Szenen oder Dialoge übernimmt, begeht kein literarisches Kavaliersdelikt, sondern einfach – Plagiat. Und das gehört sich nicht. Punkt. Keine Diskussion.

    Aber – und jetzt wird’s interessant – es gibt so etwas wie eine Grauzone, in der aus einem alten Stoff ein neuer Ton wird. Eine Neuinterpretation. Ein Perspektivwechsel. Eine Adaption.

    Sich bedienen ist erlaubt. Sogar üblich. Solange man sich nur das Grundgerüst ausleiht, die Prämisse, das nackte „Was wäre, wenn…?“ – und daraus eine eigene Welt zimmert: mit anderen Figuren, anderen Konflikten, anderen Kulissen. Und, womöglich: anderem Ausgang.

    Man nehme: Romeo und Julia. Zwei Liebende, getrennt durch die Dummheit ihrer Umgebung. Gab’s schon. Wird’s wieder geben. West Side Story zum Beispiel – nichts anderes als Romeo mit Messern und Mambo.

    Oder Les Misérables. Die Story vom gejagten Mann, dem das Gesetz auf den Fersen ist, wurde neu geboren als Auf der Flucht, mit Harrison Ford, rasender Kamera und traurigen Augen.

    In einem anderen Klassiker rennt Liebe gegen religiöse Unterschiede an – heute neu gemixt mit Ethnie, Herkunft oder Gender. Funktioniert immer noch.

    Der erste Schritt: Finde eine Geschichte, die sich lohnt. Keine lahme Ente, sondern etwas mit Herz, Wucht oder zumindest einem unerhörten Gedanken. Klassiker sind ein guter Anfang. Die haben überlebt – und zwar aus gutem Grund.

    Dann wird’s spannend. Wie könnte man die Geschichte drehen?

    • Wechsel die Zeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
    • Wechsel den Ort: Metropole wird Dorf, Schloss wird Container, Steppe wird Mars.
    • Wechsel das Geschlecht: Aus dem Helden wird eine Heldin, oder etwas dazwischen.
    • Wechsel das Alter: Was, wenn Faust sechzehn ist – und Influencer?
    • Wechsel das Genre: Mach aus einem Drama eine Komödie, aus einem Krimi einen Liebesfilm.

    Der Kaufmann von Venedig? In Frankfurt, mit Hedgefonds statt Dukaten. Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Als Chemie-Studentin im Jahr 2037, die sich per Pille ins andere Geschlecht transformiert.

    Du meinst, das klingt wild? Gut so.

    Hier ein kleines Kuriositätenkabinett an Stoffen, die sich immer wieder danach sehnen, neu gedacht zu werden:

    Don Quijote, Der Graf von Monte Christo, Faust, Die drei Musketiere, Alice im Wunderland, In 80 Tagen um die Welt, Frankenstein, Les Misérables, Lord Jim, Die Morde in der Rue Morgue, Das Bildnis des Dorian Gray, Wenn der Postmann zweimal klingelt, Tarzan, Der dritte Mann, Topper, Die Schatzinsel – die griechischen Tragödien …

    Und nun die Fragen, die du dir stellen solltest, bevor du losschreibst – neugierig, respektlos, spielerisch:

    • Wer ist mein neuer Protagonist? Mann? Frau? Kind? Teenager?
    • Wer ist der Antagonist? Ein System? Ein Mensch? Eine Erinnerung?
    • Was ist sein oder ihr neues Ziel? Was will diese Figur?
    • Wie könnte die Geschichte ganz anders enden?
    • In welcher Zeit könnte diese Geschichte ebenfalls funktionieren?
    • Und wo? Ländlich? Urban? In einem Land, das niemand kennt oder alle zu kennen glauben?

    Wenn du diese Fragen ernsthaft – und frei – beantwortest, ist aus dem alten Text kein Abklatsch geworden, sondern ein Echo. Kein Schatten, sondern ein Dialog. Und plötzlich – das Versprechen: Alles beginnt von vorn. Nur anders.

    Denn Geschichten sind keine Fossilien. Sie sind Tiere. Sie wandern. Sie verwandeln sich. Und manchmal – wenn du Glück hast – fangen sie wieder an zu atmen. Unter deiner Hand.

    Die Renaissance-Autoren, deren Ehrgeiz es war, die Antike nicht nur zu bestaunen, sondern sich einzuverleiben haben sich in dieser Hinsicht als Meister der Imitation erwiesen.

    Sie kopierten nicht, sie transformierten. Oder besser: Sie verinnerlichten so gründlich, dass das Wiedergekäute plötzlich wie Erstgeburt wirkte. Keine billige Kopie, kein blasses Echo – vielmehr ein neues Lied auf vertrauter Melodie. Petrarca, der alte Humanist mit Hang zur Rhetorik und zur Selbstinszenierung, bringt es ziemlich elegant auf den Punkt.

    Ein guter Nachahmer, sagt er, sollte seinem Vorbild ähneln, aber bloß nicht identisch mit ihm sein. Wie ein Sohn, der seinem Vater gleicht – nicht in jeder Falte, nicht in jedem Bartstoppel, aber doch irgendwie im Gang, im Blick, in dieser eigenartigen Art, das Wort „nun“ zu benutzen.

    Das Bild ist klug gewählt. Denn ein Porträtist – so Petrarca weiter – misst den Erfolg seines Werkes daran, wie genau es das Original trifft. Ein Imitator hingegen, der etwas von der Kunst versteht, weiß: Das Ziel ist nicht ein Spiegelbild, sondern eine Verwandlung. Eine Resonanz. Oder meinetwegen: eine geheime Zwiesprache.

    Die wirklich gelungene Nachahmung, so sein Credo, erkennt man nicht auf den ersten Blick – im besten Fall erkennt man sie gar nicht, sondern erfühlt sie nur, wie man manchmal den Einfluss eines Menschen auf einen anderen spürt, ohne genau sagen zu können, woran es liegt. Ein Hauch, ein Tonfall, ein kaum merklicher Knick in der Argumentation.

    Und hier, in dieser Forderung nach verborgener Ähnlichkeit, steckt vielleicht das eigentliche Kunststück: Dass das Geliehene sich so tief in den eigenen Stil einnistet, dass es nicht mehr wie ein fremdes Möbelstück im Zimmer steht, sondern wie ein Erbstück, das man irgendwann selbst zu tragen beginnt – mit Stolz und leichtem Unbehagen.

    Die Grenze zwischen Nachahmung und Plagiat? Sie liegt, wie so vieles, im Detail. Und in der Haltung. Wer imitiert, weil er liebt, wird irgendwann er selbst. Wer klaut, weil er’s eilig hat, bleibt ein Schatten. Und der lässt sich, bei aller Mühe, nicht literarisch aufhübschen.

  • Geschichten aushecken

    Weber des Schicksalsfadens

    Stell dir vor: Du sitzt da, einen Kaffee in der Hand, der Stift zittert leicht, dein Blick schweift über das weiße Blatt, und plötzlich—peng!—bist du Gott. Ganz ohne Bewerbungsgespräch. Kein brennender Busch, keine himmlische Personalabteilung. Einfach du, der Erzähler. Und in dem Moment, in dem du eine Figur erschaffst, bist du allmächtig.

    Du entscheidest, wer lebt, wer stirbt, wer sich verliebt, wer sich lächerlich macht. Wer die Pointe bekommt und wer den Abwasch. Es ist ein bisschen wie Puppentheater – nur dass die Puppen plötzlich Fragen stellen, widersprechen oder sich weigern, brav zu tanzen.

    Aber halt – mit großer Macht kommt… du weißt schon. Verantwortung. Keine kleine. Denn wenn du Gott spielst, darfst du dich nicht mit dem lieben alten Mann mit Bart zufriedengeben. Du bist Schöpfer, Richter, Schicksal und Drehbuchautor in einem. Du musst nicht nur denken wie du, sondern auch wie dein depressiver Postbote, die ambitionierte Schülerin mit dem Kettensägenschein und der Ex von deinem Protagonisten, der in Folge drei plötzlich auftaucht und alles durcheinander bringt.

    Du musst sie kennen. Von innen. Ihre Träume, Ängste, Macken. Ihre Talente, ihre Dummheiten, ihre Lieblingspizza. Denn du hast ihnen das Leben geschenkt, ob sie wollten oder nicht – also sorg gefälligst dafür, dass sie auch was damit anfangen können. Gib ihnen einen Grund, morgens aufzustehen (oder eben nicht). Gib ihnen Ziele. Und Hindernisse. Gib ihnen Fehler – nicht zu knapp! Denn ohne Makel kein Drama, und ohne Drama kein Grund, über Seite eins hinauszulesen.

    Das Spiel läuft so: Ziel – Hindernis – Versuch – Krise – Eskalation – Lösung (oder eben Scheitern mit Anstand). Wie im echten Leben, nur mit besserem Dialog.

    Und damit kommen wir zum Thema. Nein, nicht das im Schulaufsatz-Sinne („Was will uns der Autor sagen?“), sondern das Thema als Arena, als unsichtbarer Magnet, der alles zusammenhält. Das Thema ist nicht der Plot – es ist der Schatten, den er wirft. Es ist das leise Brummen im Hintergrund. Manchmal ist es Liebe, manchmal Verrat, manchmal nur das verzweifelte Bedürfnis, irgendwo anzukommen, bevor der letzte Bus fährt.

    Thema

    Ein Thema gibt deiner Geschichte Richtung, wie der Geruch von verbranntem Toast einer Küche Bedeutung gibt: Es sagt nicht, was passiert ist, aber es sagt, dass etwas passiert ist. Und es stellt Fragen. Große Fragen. Unbequeme. Vielleicht auch kindlich naive. Aber nie belanglose.

    In Der Zauberer von Oz zum Beispiel geht es um Heimkehr – nicht geografisch, sondern existenziell. Dorothy erkennt, dass alles, was sie gesucht hat, schon immer in ihr lag. (Klingt kitschig, ja – aber versuch das mal ehrlich zu glauben, wenn du das nächste Mal im Stau stehst und dir denkst: „Bin ich hier richtig?“)

    Tootsie? Ein Schauspieler im Frauenkleid lernt, was es heißt, eine Frau zu sein – und, spoiler alert, das ist keine Komödie für alle Beteiligten. Gorillas im Nebel? Obsession. Die Sorte, die dich aus dem Alltag schleudert und ins Dickicht bringt – manchmal auch im übertragenen Sinn.

    Das Thema kann vieles sein. Macht. Gier. Verlangen. Schuld. Gerechtigkeit. Es kann klein daherkommen – wie ein Streit um Zahnpasta – und dabei ganze Welten zum Einsturz bringen. Es kann groß auftrumpfen – Revolution! – und doch so privat sein, dass es dir die Kehle zuschnürt.

    Ein paar mögliche Arenen gefällig? Bitteschön:

    Abtreibung. Missbrauch. Sucht. Ehrgeiz. Zorn. Bigotterie. Ausgebranntsein. Todesstrafe. Korruption. Vertuschung. Kriminalität. Entdeckung. Scheidung. Drogen. Bildung. Umwelt. Scheitern. Freiheit. Gier. Glück. Hass. Geschichte. Homosexualität. Krankheit. Gerechtigkeit. Einsamkeit. Liebe. Lust. Ehe. Sterbehilfe. Moral. Atomkraft. Obsession. Alter. Leidenschaft. Polizeigewalt. Politik. Pornographie. Besitzergreifung. Armut. Macht. Prostitution. Vergewaltigung. Religiöse Verfolgung. Rache. Revolution. Rechte. Stress.

    Schon eine Idee? Oder fühlst du dich wie beim Scrollen durch einen sehr düsteren Streamingdienst?

    Absicht trifft Absicht – und der Rest ist Handlung

    Alles beginnt mit einem Wunsch. Oder vielleicht eher: einem Zweck, einer Absicht, einem leisen Ziehen im Inneren, das sagt: Da will ich hin. Oder: Das darf nicht sein. Es ist dieser innere Motor, der Figuren aus dem warmen Sessel ihrer Bedeutungslosigkeit reißt und sie auf Kollisionskurs bringt – mit der Welt, mit anderen, manchmal mit sich selbst.

    Man nennt es primäre Absicht. Und wie bei jeder guten Tragödie, Komödie oder mittellangen Katastrophe steht ihr das Gegenteil schon gegenüber: eine Gegenabsicht. Zwei Kräfte, zwei Willen, zwei Richtungen – und dazwischen: die Handlung.

    Die primäre Absicht kann von jedem ausgehen. Vom Helden. Vom Bösewicht. Von der alten Dame, die nie erwähnt wird, aber irgendwann den Schlüssel trägt. Ob absichtlich oder versehentlich – wichtig ist nur: Einer will was. Und der andere: will das verhindern. Oder etwas anderes erreichen. Was auf dasselbe hinausläuft.

    Und so geht es los: Der eine will beweisen, dass sein Freund unschuldig ist. Der andere – kleiner Haken – ist der eigentliche Täter und möchte verdammt noch mal nicht erwischt werden. Während also der eine versucht, die Wahrheit ans Licht zu zerren, wühlt der andere schon in der Trickkiste, um jemand Drittes reinzureiten. Vielleicht den Helden selbst. Tadaa: Das Spiel beginnt.

    Was jetzt folgt, ist ein Tanz aus Nebenhandlungen, Umwegen und Listen. Was auch immer der Hauptsache dient, nennen wir Endziel. Was es sabotiert, nennen wir Gegenaktionen. Beide Seiten agieren, reagieren, improvisieren. Und am Ende – wenn alles schiefgegangen ist, was schiefgehen konnte – bleibt einer stehen. Vielleicht. Vielleicht auch keiner.

    Ein paar Endziele gefällig? Hier ist ein kleines Potpourri menschlicher Sehnsucht, Verzweiflung und Schlitzohrigkeit:

    • Die eigene Unschuld beweisen.
    • Die Unschuld eines anderen beweisen.
    • Erfolg haben.
    • Jemanden oder etwas finden.
    • Ein Kunstwerk schaffen.
    • Die Liebe eines anderen gewinnen.
    • Jemandem in Not helfen.
    • Eine Sache voranbringen.
    • Die Welt verbessern.
    • Die eigene Identität entdecken.
    • Eine Behinderung überwinden.
    • Geldnot beenden.
    • Eine Firma retten.
    • Einen Beruf beginnen.
    • Eine wichtige Position erringen.
    • Jemanden belasten.
    • Ein Verbrechen begehen.
    • Macht übernehmen.
    • Für ein Amt kandidieren.
    • Jemanden zu Fall bringen.
    • Schaden anrichten.
    • Sich rächen.
    • Der Vergangenheit entkommen.
    • In fremde Fußstapfen treten.
    • Verlorenes wiedererlangen.
    • Einen Wettbewerb gewinnen.
    • Befördert werden.
    • Gerechtigkeit walten lassen.
    • Vergebung erlangen.
    • Eine Schuld begleichen.
    • Die Wahrheit herausfinden.
    • Die Wahrheit verdrehen.
    • Einen Fehler korrigieren.
    • Einen Schatz finden.
    • Ruhm und Reichtum erlangen.
    • Jemandem eine Lektion erteilen.
    • Eine Ungerechtigkeit wiedergutmachen.
    • Die Geschichte verändern.
    • Eine Ehe retten.
    • Ein Verbrechen verhindern.
    • Nach Hause zurückkehren.
    • Einen Zeugen finden.
    • Einen Zeugen loswerden.

    Und wie kommen unsere Helden (und Nicht-so-ganz-Helden) in die Geschichte hinein? Es gibt zwei Wege: mit Absicht. Oder ohne.

    Mit Absicht heißt: Ich will das. Ich tu’ das. Ich geh’ da hin.

    Ohne heißt: Ich bin nur kurz Zigaretten holen gegangen – und dann lag da ein Toter.

    Handlung aus eigenem Antrieb: Der Held mischt sich ein. Aus Pflicht, Neugier, Liebe, Trotz, Ehrgeiz oder einfach aus dem Impuls, etwas zu tun, das größer ist als er selbst – oder kleiner, aber dringend. Er will helfen, gewinnen, fliehen, entlarven, heiraten, sich beweisen, jemandem zeigen, was eine Harke ist. Oder er plant einen Mord. Auch das kommt vor.

    Hineinstolpern ins Geschehen: Die Sache stößt ihm zu. Er ist zur falschen Zeit am falschen Ort. Hebt den falschen Koffer auf. Öffnet den Brief eines anderen. Antwortet auf ein Inserat. Wird entführt, bestohlen, verwechselt. Und plötzlich steckt er drin. Im Schlamassel. Im Rätsel. Im Abenteuer. Ohne es gewollt zu haben – aber bald kann er nicht mehr raus.

    Manöver

    Nebenschauplätze sind trickreich, Nebenhandlungen noch mehr. Sie sind die kleinen Stellschrauben, mit denen Figuren das große Ziel erreichen – oder daran scheitern:

    • Beweise manipulieren.
    • Eine Identität annehmen.
    • Jemanden bestechen.
    • Eine falsche Spur legen.
    • Einen Bösewicht vor Gericht bringen.
    • Ein Alibi zerschlagen.
    • Fliehen, sich verstecken, krank stellen.
    • Jemanden aufspüren.
    • Die Schuld auf jemand anderen schieben.
    • Die Wahrheit verdrehen.
    • Die eigene Angst überwinden.
    • Eine Leiche finden. Oder verschwinden lassen.
    • Ein Versprechen brechen lassen.
    • Jemanden täuschen. Oder retten. Oder opfern.
    • Eine Waffe finden. Oder verlieren.
    • Einen Mitwisser beseitigen.
    • Ein altes Talent aus der Versenkung holen.
    • Jemanden bluffen. Jemanden überreden. Jemanden verführen. Oder eben: einfach mal lügen.

    Zwischen all dem: Überraschungen, Nebenfiguren, der Takt der Uhr. Plötzlich ist es zu spät. Oder noch nicht zu spät. Noch ein Versuch. Noch ein Trick. Noch eine Wendung.

    Und das Publikum? Lächelt, weint, hält die Luft an. Weil irgendwo da drin, in all den Tricks und Täuschungen, eine Wahrheit liegt. Vielleicht nicht die Wahrheit – aber eine, die sich echt anfühlt.

    Und das reicht. Für eine Geschichte. Für eine Nacht. Vielleicht für mehr.

    Konflikt

    Vergiss den Spruch mit den Gegensätzen, die sich anziehen. In Geschichten tun sie das Gegenteil – sie krachen ineinander. Kein Drama ohne Konflikt. Keine Handlung ohne Widerstand. Kein Zuschauer, der mitfiebert, wenn nicht irgendwer irgendwem im Weg steht.

    Konflikt entsteht, wenn ein Ziel – meist das des Protagonisten, manchmal auch das eines Gegenspielers – auf ein Hindernis trifft. Das Hindernis kann alles Mögliche sein: die Natur, das System, die Familie, die eigene Vergangenheit, ein innerer Abgrund oder schlicht: ein anderer Mensch mit eigenen Zielen.

    Manchmal startet die Geschichte mit dem Wunsch des Helden. Manchmal mit dem Plan des Antagonisten. Beides reicht, um den Kampf zu eröffnen.

    Ein paar klassische Reibungspunkte:

    • Einer will seine Behinderung überwinden, der andere nutzt sie aus.
    • Einer kämpft für das Gute, der andere gegen Besitz.
    • Einer will zerstören, der andere bewahren.
    • Einer strebt nach Ruhm – und läuft gegen die Wand eines größeren Schicksals.

    Die zweite Schiene

    Nebenhandlungen, Subplots, Nebenlinien – egal wie man sie nennt, sie sind die kleinen Züge, die auf weiteren Schienen mitfahren. Mal lustig, mal tragisch, mal völlig absurd – aber immer eine Bereicherung, wenn richtig eingesetzt.

    Manchmal sind sie dramaturgisches Kontrastmittel. Der große Plot ist ernst, die Nebenhandlung albern. Oder umgekehrt. Manchmal auch einfach nur da, um einer Figur Tiefe zu geben oder dem Zuschauer einen Moment zum Atmen.

    Nicht jede Geschichte braucht einen Subplot. Kurzgeschichten und klassische Horrorfilme verzichten oft darauf. Aber in komplexeren Erzählungen kann er Wunder wirken.

    Beispiel: Zwei Ermittler lösen einen Mordfall – das ist der Hauptplot. Einer von beiden hat eine Ehekrise – das ist der Subplot. Hat mit dem Mord nichts zu tun, färbt aber alles ein: den Ton, die Spannung, die Figur.

    Wenn andererseits die Ehekrise das Zentrum ist, und der Mordfall nur Rahmen, dann bist du näher an erzählender Literatur als an einem Krimi – und das ist völlig okay. Du entscheidest, was deine Geschichte trägt.

    Ein Subplot kann auch ein langfristiger Faden sein, der durch viele Episoden führt. In Auf der Flucht (The Fugitive) etwa jagt der Protagonist in jeder Folge dem „einarmigen Mann“ hinterher – das ist der serielle Subplot. Die jeweilige Folge hat meist ihre eigene abgeschlossene Handlung.

    Was sind mögliche Subplots? Alles, was eine Figur aus dem Gleichgewicht bringt:

    • Eine Affäre, eine Scheidung, ein Ehedrama
    • Ein medizinisches Testergebnis, das aussteht.
    • Sich verlieben – oder nicht mehr verlieben können.
    • Ein heimliches Hobby, das peinlich ist.
    • Die Schule, der Alkohol, der Vater, der immer noch da ist.
    • Der Jobwechsel, das Überraschungsgeschenk, die Eifersucht.
    • Ein geerbter Hund.
    • Eine unvollständige Diät.
    • Jemandem beim Sterben zuschauen, ohne es zeigen zu dürfen.

    Ein Subplot kann mit dem Hauptplot verbunden sein – oder auch völlig danebenliegen. Er kann stören, helfen, alles verändern oder einfach nur da sein. Ein paar Beispiele:

    – Der Held hat Stress mit der Ehefrau. Sie geht fremd – und wie sich später herausstellt: mit dem Schurken. Subplot wird Hauptplot-Katalysator. – Der Held verliebt sich – und das hat mit dem Fall nichts zu tun. Aber es macht alles schwerer. Oder schöner. Oder beides. – Der Held erfährt, dass er bald Vater wird – und plötzlich geht’s nicht mehr nur um den Bankraub, sondern auch um Windeln.

    Dringlichkeit

    Nicht jede Geschichte braucht sie. Aber wenn du Spannung willst, Druck, Tempo – dann bau eine Uhr ein. Nicht wörtlich. Sondern eine Frist. Eine Deadline. Ein Moment, nach dem alles anders – oder verloren – ist.

    Die tickende Uhr ist kein Requisit. Sie ist ein dramatischer Verstärker. Und sie sollte nie zur Show herumstehen, sondern in den Figuren spürbar sein: durch Schweiß, Zittern, falsche Entscheidungen.

    Was passiert, wenn die Zeit abläuft? Hier ein paar Möglichkeiten:

    • Der Geliebte geht.
    • Der Bösewicht entkommt.
    • Ein Verbrechen geschieht.
    • Der Patient stirbt.
    • Die Bombe explodiert.
    • Der Sturm trifft ein.
    • Zwei Züge kollidieren.
    • Jemand nimmt sich das Leben.
    • Ein fataler Fehler geschieht.
    • Ein Geheimnis kommt ans Licht.
    • Eine Ehe zerbricht.
    • Etwas Wertvolles wird zerstört.
    • Eine Identität fliegt auf.
    • Die Wahrheit stirbt. Oder kommt zu spät.
    • Ein Tier entkommt – oder wird eingeschläfert.
    • Der Falsche stirbt.
    • Der Spender wird nicht gefunden.
    • Der Mörder schlägt erneut zu.
    • Die Bank zieht das Haus ein.
    • Der Flieger hebt ohne dich ab.
    • Der Krieg beginnt.
    • Die Umwelt kippt.

    Wann du diese Uhr einführst, ist dein Ding. Aber sobald sie tickt, gibt es kein Zurück. Dann wird aus Spannung echtes Drama. Und das ist das Herz jeder Geschichte – egal wie laut oder leise es schlägt.

    Der steinige Weg

    Man hat’s schon oft gesagt, meistens mit einem Achselzucken: Das Leben ist nicht fair. Und wenn’s das schon nicht ist, warum sollte es eine Geschichte sein? Der Weg zur Erfüllung des Ziels deiner Hauptfigur darf nicht glatt sein, darf nicht gepflastert sein mit Vernunft, Logik oder – Gott bewahre – Glück. Nein, wer Spannung sucht, muss schleifen, stören, sabotieren.

    Ein alter Satz, den Dramaturgen wie heilige Schrift weitergeben: Setz deine Figur auf einen Baum. Wirf Steine auf sie. Hol sie wieder runter. Wer das nicht tut, erzählt keine Geschichte, sondern protokolliert einen Sonntagsspaziergang.

    Die Hindernisse – ach, sie sind Legion. Und nicht immer sind es Mauerwerk oder Monster. Manchmal reicht schon ein verirrter Gedanke. Oder ein Versprechen, das man sich selbst gegeben hat und nun bereut. Angst ist ein Hindernis. Scham auch. Und Wetter sowieso.

    Ein paar Beispiele, frisch aus der dramaturgischen Hölle:

    • Die eigene Angst lähmt jede Bewegung.
    • Schlechtes Wetter verhindert die Suche.
    • Schlechtes Wetter vereitelt die Flucht.
    • Schlechtes Wetter lässt einen Plan platzen.
    • Feuer versperrt den Weg.
    • Ein Erdbeben erschüttert alles.
    • Eine Explosion zerstört das, was gebraucht wird.
    • Eine Brücke wird weggespült.
    • Die Straße ist unpassierbar.
    • Ein Versprechen bindet – und bremst.
    • Eine Wahrheit darf nicht ausgesprochen werden.
    • Das Fahrzeug bleibt liegen.
    • Kein Benzin mehr – wie peinlich.
    • Eine Geisel wird genommen.
    • Unschuldige stehen im Weg.
    • Eine Person tritt zwischen die Fronten.
    • Ein alter Liebhaber taucht wieder auf.
    • Es gibt keine Transportmittel.
    • Die Hauptfigur wird selbst zur Verdächtigen.
    • Feindliches Feuer zwingt sie in Deckung.
    • Eine Zeugin wird ermordet.
    • Eine Zeugin verschwindet.
    • Beweismittel sind weg oder zerstört.
    • Eine Waffe kann nicht eingesetzt werden.
    • Die Munition ist alle.
    • Die Vorräte sind erschöpft.

    Spannung

    Spannung lebt vom Konflikt zwischen Protagonist und Antagonist. Manchmal auch vom Scheitern eines Verbündeten. Und ganz besonders von dem nagenden Zweifel: Schaffen sie’s? Oder wird alles den Bach runtergehen?

    Spannung entsteht nicht durch sofortige Lösung, sondern durch Friktion, durch Frust, durch verzögertes Handeln. Ein paar Klassiker:

    • Es sieht so aus, als käme die Nachricht zu spät.
    • Es sieht so aus, als würde die Nachricht abgefangen.
    • Es sieht so aus, als käme Hilfe zu spät.
    • Der Feind ist bereit zum nächsten Schlag.
    • Wird die Zeugin wirklich aussagen?
    • Die Wahrheit droht, unerkannt zu bleiben.
    • Die Lüge scheint unüberführbar.
    • Ein Verbündeter scheint es nicht zu schaffen.
    • Sicherheit bleibt unerreichbar.
    • Die gesuchte Person ist tot.
    • Die Rettung wird verzögert oder scheitert.
    • Der Treffpunkt ist verlassen.
    • Der Protagonist weiß nicht, dass der Plan verraten wurde.
    • Jemand fällt auf einen Trick herein.
    • Der Antagonist hat längst gehandelt.
    • Ein falsches Motiv wird vorgetäuscht.
    • Ein falscher Täter wird präsentiert.
    • Ein scheinbarer Verbündeter ist in Wahrheit der Feind.
    • Plötzlicher Verrat.
    • Jemand lauert im Schatten.
    • Eine Falle ist gestellt – niemand merkt’s.
    • Essen und Trinken sind vergiftet.
    • Das Telefon klingelt. Aber niemand antwortet.
    • Unbekannte schneiden Leitungen durch.

    Überraschungen

    Plötzliche Wendungen, Twists – besonders in Thrillern das Salz in der Suppe. Aber auch in Romanzen, Komödien, Dramen. Sie holen die Geschichte vom Erwartbaren ins Unberechenbare. Und genau das wollen wir doch, oder?

    Ein paar kleine Katastrophen zur Anregung:

    • Jemand platzt unerwartet in eine Szene.
    • Eine Nachricht geht verloren oder kommt falsch an.
    • Ein dringender Anruf – aber niemand nimmt ab.
    • Ein Erbe taucht plötzlich auf.
    • Eine unerwartete Entdeckung wird gemacht.
    • Etwas Wertvolles verschwindet.
    • Ein vermeintlicher Feind ist ein Freund.
    • Ein vertrauter Mensch ist nicht, was er schien.
    • Ein Totgeglaubter lebt.
    • Ein Lebender war längst tot.
    • Eine Herzensänderung geschieht – aus dem Nichts.
    • Ein Motiv zerfällt in sich.
    • Entführung!
    • Eine Leiche taucht auf – wo man keine erwartet.
    • Eine Leiche ist weg – obwohl sie da sein sollte.
    • Die Waffe ist verschwunden.
    • Hilfe kommt – aber anders als gedacht.
    • Verrat.
    • Die Telefonleitung: tot.
    • Die Straße: gesperrt.
    • Der Mörder: im Schatten.
    • Der Plan: durchschaut.
    • Der Mann: eine Frau.
    • Die Pistole: leer.
    • Der Albtraum: nur ein Traum – oder?
    • Das Geräusch: nur eine Katze.
    • Das Verkehrsmittel: verpasst.
    • Die Annahme: falsch.
    • Hilfe bleibt aus.
    • Der Falsche stirbt.
    • Falscher Fahrer am Steuer.
    • Die miese Finte geht auf.
    • Das Boot sinkt.
    • Keine Landebahn.
    • Die Brücke hebt sich.
    • Der Zug rast auf das Auto zu.
    • Ein Brief verändert alles.
    • Ein Unschuldiger steht am Pranger.
    • Ein Liebespaar wird durch eine Lüge getrennt.
    • Unterstützung – plötzlich weg.
    • Niemand glaubt der Wahrheit.
    • Das Kind fehlt an der Schule.
    • Das Geld ist aufgebraucht.
    • Die falsche Person erscheint.
    • Unerwartete Einladung.
    • Ein Hauptgewinn.
    • Das Pferd gewinnt.
    • Eine Bombe wird entdeckt.
    • Ein Schuss fällt – aus dem Nichts.
    • Eine Zeugenaussage kommt plötzlich.
    • Ein Partner verlässt die Bühne.
    • Der Ort: verwüstet.
    • Ein Unfall reißt jemanden aus dem Leben.
    • Ein Freund entpuppt sich als Feind.
    • Ein Verräter im Inneren.
    • Eine Schwangerschaft wird entdeckt.
    • Ein Jobangebot kommt zur Unzeit.
    • Der Wagen springt nicht an – natürlich.
    • Eine Gelegenheit öffnet sich.
    • Ehefrau oder Ehemann treten herein.
    • Eine Situation wird komplett falsch interpretiert.
    • Der Bluff fliegt auf.
    • Aus einer kleinen Lüge wird ein Monstrum.
    • Ein Vorgesetzter blockiert alles.
    • Eine Verletzung stoppt alles.
    • Befehlskonflikte.
    • Kein Equipment.
    • Kein Kontakt.
    • Ein Code bleibt ungelöst.
    • Es fehlt Geld – viel Geld.
    • Noch jemand braucht Hilfe – gleichzeitig.
    • Wilde Tiere verhindern das Weiterkommen.
    • Feindliche Stämme blockieren den Weg.
    • Diplomatische Immunität schützt den Schuldigen.
    • Eine Grenze ist unpassierbar.
    • Die Papiere fehlen.
    • Schweigepflicht.
    • Zusammenbruch.
    • Bewusstlosigkeit.
    • Ein Weiterkommen gefährdet jemand anderen.
    • Tarnung auffliegen lassen.
    • Vertrauliches wird enthüllt.
    • Eltern mischen sich ein.
    • Alte Wunden brechen auf.
    • Der Fluchtweg ist blockiert.
    • Eine Verfolgung läuft.
    • Informationen fehlen.
    • Ein rechtliches Schlupfloch blockiert den Weg.
    • Boobytraps.
    • Minenfelder.
    • Ein Erdrutsch.
    • Das Versteck wird entdeckt.
    • Ein Vertrauter wird zum Verräter.
    • Hilfe wird verweigert.
    • Vertrauen entzogen.
    • Ein Freund desertiert.
    • Die Anwesenheit wird entdeckt.
    • Übermacht.
    • Kein Zutritt.
    • Zerrissen zwischen zwei Katastrophen.
    • Ort oder Objekt bleiben unauffindbar.
    • Ein Gegenstand blockiert den Weg.
    • Druck verhindert das Weitergehen.
    • Unwegsames Gelände.
    • Ziel scheint unerreichbar.
    • Kein Transportmittel für Verfolgung oder Flucht.
    • Technik versagt.
    • Waffen reichen nicht.
    • Zeit läuft ab.
    • Plötzlicher Sinnesverlust.
    • Keine Möglichkeit zur Flucht.

    Krise und Höhepunkt

    Die Krise ist der Moment, in dem’s nicht mehr zurück geht. Hier muss alles auf den Tisch. Die letzte Lüge, das letzte Hindernis, das letzte Zögern.

    Dann, und nur dann, kann die Figur:

    • Die Identität des Gegners erkennen.
    • Den Aufenthaltsort des Gegners finden.
    • Das Motiv des Gegners verstehen.
    • Die finale Gefahr erkennen.
    • Einen Fehler einsehen.
    • Ein Geheimnis lüften.
    • Eine Lüge entlarven.
    • Eine Wahrheit erkennen.
    • Sich erinnern.
    • Den Schlüssel zur Lösung finden.
    • Den nächsten Schritt erkennen.
    • Endlich fliehen.
    • Den wahren Plan begreifen.
    • Den Falschen rehabilitieren.
    • Sich eingestehen, getäuscht worden zu sein.
    • Den Moment der Wahrheit durchleben.
    • Klar sehen.
    • Das Gesuchte endlich finden.

    Und dann – wenn alles klar ist – dann kommt der Höhepunkt. Der Moment, in dem gehandelt wird. Der letzte große Atemzug, bevor der Vorhang fällt.

    Lösung

    Am Ende einer Geschichte steht selten eine absolute Wahrheit. Meist ist es eher so etwas wie: eine Entscheidung. Oder ein Versuch. Oder ein Scheitern, das sich überraschend wie ein Sieg anfühlt.  Lösungen – das sind nicht die Goldpokale am Ende des Marathons. Es sind die Momente, in denen Figuren zeigen, wer sie wirklich sind. Oder was aus ihnen geworden ist.

    Natürlich hängt alles davon ab, wie du deine Figuren gebaut hast. Wenn du’s gut gemacht hast, flüstern sie dir ihre Lösung ins Ohr. Oder schreien sie dir entgegen. Je nach Temperament.

    Die Achillesferse – vergiss sie nicht. Jeder hat eine. Auch Helden. Gerade Helden.

    Was haben die Figuren übereinander gelernt? Welche Werkzeuge, Tricks, Selbstlügen, oder Wunderkerzen setzen sie ein, um das zu kriegen, was sie begehren – oder um zu retten, was noch zu retten ist?

    Ist dein Held ein Mensch, der zur Waffe greift? Weiß er, wie man sie benutzt? Oder ist er eher der Typ: List statt Pistole? Und dein Gegenspieler – wie tief reicht seine Bosheit? Kennt er Reue? Oder stirbt er lieber, als Schwäche zu zeigen?

    Fragen über Fragen. Und mitten im Dickicht: ein paar Beispiele. Nicht als Anleitung, sondern als Einladung zum Weiterspinnen:

    • Der Protagonist bringt den Antagonisten dazu, seine Sünden, seine Verbrechen oder seine Ziele zu gestehen.
    • Er oder sie sorgt dafür, dass der Schurke zum Tatort zurückkehrt – ausgerechnet dorthin.
    • Der Held spielt mit den Ängsten des Antagonisten, bis dieser bricht.
    • Der Bösewicht glaubt, sein Komplize habe gestanden – und packt selbst aus.
    • Ein raffinierter Trick entlockt dem Antagonisten die Wahrheit.
    • Der Gegner wird gefasst – kurz bevor er erneut zuschlagen kann.
    • Das Opfer wird gerettet. Noch rechtzeitig. Fast zu spät.
    • Die Geisel kommt frei.
    • Das Vermisste ist am Leben – und unversehrt.
    • Alles wird vergeben. (Nicht vergessen.)
    • Ein Fehler des Antagonisten – und der Turm fällt.
    • Ein Gebet wird erhört. Oder es fühlt sich zumindest so an.
    • Der Gegner erkennt: Ich lag falsch. Und tut, was er nie tun wollte.
    • Der Böse bringt sich selbst zu Fall. Tragik oder Gerechtigkeit? Ansichtssache.
    • Im letzten Moment taucht ein Beweis auf. Der Unschuldige atmet auf. Ein anderer nicht.
    • Die Erinnerung kehrt zurück. Die Nebel lichten sich.
    • Die Krankheit weicht. Das Leben kehrt zurück.
    • Ein Heilmittel wird gefunden. Oder geglaubt.
    • Die Medizin kommt noch rechtzeitig.
    • Die Liebenden erfahren die Wahrheit. Und verzeihen. Oder nicht, aber sie küssen sich trotzdem.
    • Der Ausreißer kehrt heim.
    • Jemand opfert sich für jemand anderen. Heldentum oder Schuldgefühl?
    • Der Antagonist durchlebt einen Sinneswandel.
    • Ein Feigling wächst über sich hinaus.
    • Der finale Plan geht auf. Endlich.
    • Ein früherer Feind wechselt die Seite. Und bleibt ambivalent.
    • Begnadigung in letzter Minute. Wer hätte das gedacht.
    • Ein Traum wird wahr. Ob er’s wert war – steht auf einem anderen Blatt.
    • Der Antagonist nimmt sich das Leben. Tragisch. Feige? Stark? Du entscheidest.
    • Ein Totgeglaubter lebt.
    • Ein Komplize kippt – und entlarvt den Haupttäter.
    • Ein bizarrer Unfall macht allem ein Ende. Zufall oder Fügung?
    • Jemand findet seinen Glauben wieder. In sich, in die Welt, in die Liebe.
    • Ein altes Unrecht wird endlich richtiggestellt.
    • Es kommt zur Wiedervereinigung. Vielleicht mit Blumen. Vielleicht mit Tränen.
    • Unerwartete Finanzhilfe rettet den Tag.
    • Der Sturm legt sich.
    • Der Regen fällt endlich.
    • Hilfe trifft ein – in letzter Sekunde.
    • Ein falsches Versprechen wird zu Recht gebrochen.
    • Ein Versprechen wird gehalten – trotz allem.
    • Das letzte Hindernis verschwindet.
    • Der Mann bekommt die Frau. Oder umgekehrt. Oder beide was ganz anderes.
    • Die Beförderung wird ausgesprochen. Hätte man nicht gedacht.
    • Die Angst – besiegt. Vorerst.
    • Eine Tür öffnet sich. Vielleicht die richtige.
    • Eine Lektion wird gelernt. Und diesmal ernst genommen.
    • Ein Verstehen setzt ein. Und führt zu einer Handlung, nicht nur zu einem Seufzen.
    • Alles ist wieder wie vorher – nur nicht ganz.
    • Der Kampf ist gewonnen. Irgendwie.
    • Die Revolution siegt.
    • Die Revolution scheitert.
    • Das Böse wird entmachtet. Ob es wirklich weg ist, bleibt offen.

    So endet eine Geschichte. Nicht immer mit einem Knall. Manchmal mit einem Nicken. Manchmal mit einem Blick. Und manchmal – ganz leise – mit einem Aufatmen. Oder dem leisen Gefühl: irgendetwas hat sich verändert. Vielleicht sogar zum Besseren.

     

  • Allgemeine Charakterzüge – oder: Wie Menschen kompliziert wurden

    Bevor deine Figur die Welt rettet, sich verliebt oder wenigstens den Müll rausbringt, solltest du wissen, wie sie innerlich tickt. Und zwar nicht nur im großen Stil – „mutig“, „verletzt“, „auf der Suche“ – sondern im Detail.

    Ist sie abrupt oder bloß schlecht gelaunt? Agnostisch aus Überzeugung oder nur, weil sie sonntags ausschlafen will? Wachsam? Distanziert? Ehrgeizig, aber mit Bindungsangst? Ein Charmeur mit einem Hang zur Selbstsabotage? Eine Träumerin mit Steuerberatersyndrom?

    Es geht um Nuancen. Um feine Risse im Selbstbild. Um Charakterzüge, die nicht in jeder Szene auftreten, aber jede Szene färben. Manche sind grimmig, andere heiter. Manche berechnend, andere verloren. Viele sind beides – und zwar gleichzeitig.

    Ein paar Beispiele gefällig? Da wären:

    • Launenhaft, aber loyal.
    • Zuvorkommend, aber rechthaberisch.
    • Romantisch, aber beziehungsunfähig.
    • Geschwätzig, aber mit einem großen Geheimnis.
    • Ehrlich, aber auf eigene Kosten.

    Die Liste der Möglichkeiten ist lang. Sehr lang. Und sie wird länger, je genauer du hinsiehst. Denn jeder Charakter ist eine Art Widerspruch auf zwei Beinen – oder mehr, wenn er ein Tentakelwesen aus dem dritten Akt ist.

    Mentale und körperliche Eigenheiten

    Nicht jeder Held ist sportlich. Nicht jede Heldin ist schlank. Vielleicht trägt dein Charakter Kontaktlinsen, weil er nicht sehen will, was er längst weiß. Oder sie hat Höhenangst, aber lebt in einem Hochhaus. Vielleicht ist er asthmatisch, aber läuft trotzdem jeden Morgen. Oder sie ist stark, aber innerlich zerbrechlich. Manchmal machen gerade die körperlichen Eigenschaften den inneren Konflikt sichtbar – oder umgekehrt.

    Gesicht, Körper, Haut

    Ein Doppelkinn, das man nicht mehr übersieht. Ein Blick, der zu tief geht. Ein Gang, der wirkt, als wäre man noch nicht ganz angekommen. Schönheit, die auffällt – oder Abwesenheit von Schönheit, die andere vergessen lässt.

    Ob jemand blond ist oder sonnenverbrannt, zerzaust oder perfekt frisiert, sagt wenig – bis es mit Bedeutung gefüllt wird. Ein wettergegerbtes Gesicht kann von draußen kommen. Oder vom Leben selbst.

    Moralischer Kompass (und seine Brüche)

    Ist deine Figur ehrlich – und was kostet sie das? Ist sie treu – aber warum? Ist sie rücksichtslos – aus Notwehr? Oder großzügig – um sich selbst besser zu fühlen?

    Charakter ist Handlung in Zeitlupe. Und Moral ist oft nur eine andere Form von Gewohnheit.

    Beziehungen

    Wer war wichtig? Wer ist es noch? Wer fehlt?

    Ein ehemaliger Liebhaber, der immer anruft, wenn’s regnet. Ein Kind, das nur am Wochenende lacht. Eine Mutter, die nie zu Besuch kommt, aber in jedem Satz mitredet. Freunde, Feinde, flüchtige Bekanntschaften – sie alle formen das Beziehungsgeflecht, in dem deine Figur lebt. Und aus dem sie sich manchmal verzweifelt befreien will.

    Lebensstil

    Allein, aber nicht einsam? Gemeinsam, aber innerlich auf Abstand? Im Loft mit Blick über die Stadt oder in der Gartenlaube mit Gulaschkanone? Streetlife, Hochglanz, Provinz – oder alles zusammen, je nach Tagesform?

    Wo und wie jemand lebt, verrät oft mehr als seine Dialoge.

    Beruf(ung)

    Der Job ist selten nur ein Job. Er ist Haltung, Ausweg, Schutzbehauptung oder letzter Versuch. Ob jemand Opernsängerin, Immobilienmakler oder Tierpräparator ist – das alles bedeutet etwas. Es zeigt, wo jemand hingehört. Oder wo er nie angekommen ist.

    Fazit

    Eine Figur ist kein Puzzle, das man zusammensetzt. Sie ist ein Körper voller Risse, Stimmen, Spuren und Möglichkeiten.

    Und je mehr du über sie weißt, desto eher wird sie dir eines Tages sagen, was du als Nächstes schreiben sollst.

  • Woher kommt dein Mensch – und warum ist er so geworden?

    Bevor eine Figur spricht, handelt oder versagt, war sie irgendwo. Und irgendjemand hat sie dort nicht abgeholt.

    Vielleicht stammt sie von der Küste, wo Salz in der Luft liegt und Entscheidungen schneller verrosten. Oder aus einem kleinen Ort, in dem jeder jeden kennt – und niemand etwas weiß. Vielleicht ist sie in den Bergen aufgewachsen, mit langen Wintern und noch längeren Schweigen. Oder sie hat ihre Kindheit in einem Heim verbracht, wo man gelernt hat, nicht zu viel zu wollen, weil Wünsche oft liegenbleiben.

    Manche kommen aus reichen Vierteln mit frisch geschnittenem Rasen und nach innen gerichteten Blicken. Andere aus Plattenbauten, wo sich Wärme eher in Worten als in Heizkörpern findet. Es gibt auch die aus den Sümpfen – bildlich oder geografisch – und jene, die „unterwegs“ aufgewachsen sind, mit Koffern statt Betten.

    Und die Eltern?
    Ach, die Eltern.

    Vielleicht waren sie streng und gläubig, streng und betrunken oder einfach nur streng. Vielleicht auch liebevoll, aber überfordert. Oder klug, aber abwesend. Vielleicht war nur einer da. Oder niemand. Oder zu viele. Manche waren tot, bevor man sie kennenlernte, andere lebten noch, aber niemand hat’s gemerkt.

    Manche Figuren kommen aus einer Familie, die „funktioniert hat“ – was immer das heißen mag. Andere wuchsen in einem Haus auf, das eher einem Nebel glich: mal war da jemand, mal nicht. Vielleicht gab es viele Geschwister, vielleicht nur Schweigen und einen alten Fernseher.

    Kindheit?

    Einige hatten eine glückliche. Die meisten nicht.
    Manche wurden verwöhnt, andere vergessen.
    Ein paar waren still. Andere laut.
    Viele waren beides – abwechselnd.

    Und dann: die Schule.

    Die Figur kann aufs Internat gegangen sein, oder gar nicht. Eine Waldorfschule vielleicht. Oder eine katholische Einrichtung mit viel Disziplin und wenig Diskussion. Oder sie hat sich selbst alles beigebracht – nachts, unter der Bettdecke, mit Taschenlampe und Trotz.

    Und wie war sie als Schülerin, als Schüler?
    Brav?
    Ein Clown?
    Unauffällig, aber gefährlich gut im Beobachten?

    Und dann: Was kann sie?

    Vielleicht sammelt sie Briefmarken oder Waffen.
    Oder sie kann segeln, tanzen, schweigen, schießen, rechnen, verführen, fischen, fliehen.
    Vielleicht liebt sie Vögel, weil die wenigstens nicht zurückreden.
    Oder sie kennt sich aus mit Astrologie, aber glaubt nicht daran.

    Jede Fähigkeit erzählt eine Geschichte, selbst wenn sie nie benutzt wird.
    Und jedes Hobby ist ein Versuch, die Welt ein bisschen erträglicher zu machen.

    Aber Vorsicht: Niemand ist perfekt.

    Deshalb: Macken.

    Vielleicht flucht sie zu oft. Oder kommt immer zu spät. Vielleicht bohrt er in der Nase, wenn’s spannend wird. Vielleicht redet sie zu laut. Oder er krümelt beim Essen. Vielleicht ist sie ungeduldig, schlecht im Small Talk, süchtig nach Wahrheit oder schlicht ein bisschen zu direkt.

    Und das alles?

    Ist nicht Kulisse.
    Sondern Fundament.

    Denn Figuren bestehen nicht nur aus dem, was sie tun. Sondern aus dem, was sie mit sich herumschleppen.
    Dem Ort, den sie nie ganz verlassen haben.
    Den Stimmen, die sie immer noch hören.
    Und den kleinen Fehlern, die sie menschlich machen –
    und genau deshalb erzählenswert.

  • Held*innenreise

    Menschen!

    Darum geht’s. Immer.

    Du kannst dir die raffinierteste Handlung ausdenken, einen Thriller voller Wendungen, eine Komödie mit Gags im Sekundentakt oder ein Drama zum Augenausweinen – ohne Figuren, die uns interessieren, ist alles nichts als hübsch ausgeleuchtete Kulisse.

    Wir kümmern uns nicht um Explosionen. Nicht wirklich. Wir kümmern uns darum, wer in die Luft fliegt. Und ob jemand um ihn trauert. Oder eben nicht.

    Je eigenwilliger, widersprüchlicher, lebendiger deine Figuren sind, desto mehr wächst uns deine Geschichte ans Herz. Oder in den Magen. Oder ins Genick. Wo immer Geschichten sich eben festsetzen.

    Ein kluger Autor – oder eine kluge Autorin, die gerade mit einer Zigarette am Fenster steht und sich fragt, warum sie wieder einen Tierarzt zur Hauptfigur gemacht hat – folgt den Figuren. Merken, wie sie abbiegen, ohne vorher Bescheid zu geben. Erleben, wie sie plötzlich Dinge tun, die im Treatment gar nicht vorgesehen waren. Und trotzdem – oder gerade deshalb – absolut stimmig sind.

    Ein Akademiker denkt anders als jemand, der mit vierzehn die Schule abgebrochen hat, um in einer Autowerkstatt zu jobben. Eine Frau, die Reichtum nie hinterfragt hat, hat ein anderes Verhältnis zur Welt als eine, die sich beim Lidl über den halben Preis von Brot freut. Kindheit in einem liebevollen Zuhause? Macht was mit einem. Kindheit mit Angst in den Wänden? Auch. Und nicht dasselbe.

    Deine Hauptfigur – nennen wir sie Anna oder meinetwegen Kai – muss nicht liebenswert sein. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Sie kann rau sein, widerspenstig, verbohrt. Aber irgendwo da drin muss etwas liegen, das uns hoffen lässt. Ein glimmender Rest von Würde oder Sehnsucht oder Schuld.

    Denn früher oder später kommt der Moment – dieser kleine Riss im Selbstbild – in dem die Figur entscheiden muss, was jetzt richtig ist. Und was sie wirklich will.

    Oft gibt es eine zweite Hauptfigur. In die sie verliebt ist, ja, das klingt kitschig. Aber vielleicht ist es eher eine Ko-Abhängigkeit. Oder eine alte Freundin, die zu viel weiß. Oder jemand, der den Kaffee immer so geheimnisvoll umrührt. Diese Figur ist nicht Staffage, sondern Spiegel. Oder Sprengsatz. Sie verändert sich. Oder sie zwingt die Veränderung der anderen herbei.

    Und dann – klar – ist da der Held. Oder die Heldin. Was aber nicht bedeutet: Cape, Muskeln, Moral im Hochglanzkarton. Nein. Die Hauptfigur darf Schwächen haben. Muss sogar. Sonst wird sie unerträglich.

    Die Verletzlichkeit ist das, was zählt. Ob’s das gebrochene Herz ist, das in müden Gesten aufblitzt. Oder der Stolz, der sich nicht helfen lassen will. Oder diese leise Angst, dass man zu spät dran ist – mit dem Leben, der Liebe, dem Ankommen bei sich selbst.

    Denn das macht sie menschlich. Und darum geht es doch:
    Menschen.

    Immer noch.

    Trotz allem.

    Die Kunst, jemanden auf einen Baum zu jagen

    Stell dir vor, du setzt deine Hauptfigur auf einen Baum. Einen ziemlich hohen. Keine Leiter, kein Netz. Nur Äste, die knacken könnten. Dann nimmst du ein paar Steine. Keine riesigen Brocken – eher so moralische Kiesel, schicksalhafte Kieselsteine, kleine, scharfe Dinger mit Gewissen. Du wirfst sie. Nicht zu brutal, aber gezielt. Und am Ende, wenn alles wehgetan hat, holst du deine Figur wieder runter. Möglichst elegant. Oder wenigstens lebendig.

    Das ist im Grunde alles, was Geschichtenerzählen verlangt.

    Natürlich wird das Ganze interessanter, wenn der Baum nicht nur ein Baum ist. Sondern eine Scheidung. Oder ein Banküberfall. Oder die Tatsache, dass man seine Tochter nicht mehr erkennt, seit sie TikTok macht.

    Was zählt, ist: Die Figur muss da hoch. Freiwillig oder wider Willen. Ob sie sich selbst ins Schlamassel bringt oder hereingerät wie jemand, der zur falschen Zeit am falschen Gleis steht, ist fast egal. Wichtig ist nur: Es wird unbequem.

    Denn das ist der Stoff, aus dem Geschichten gemacht sind – nicht aus der bloßen Bewegung, sondern aus dem Widerstand gegen sie. Aus dem Scheitern, das einen Zweck bekommt.

    Die Figur will etwas. Muss etwas wollen. Überleben. Geliebt werden. Endlich wieder schlafen. Vielleicht auch einfach nur ein Butterbrot mit dem richtigen Verhältnis aus Rinde und Krume.

    Und wie sie es will – wie sie es sich erlaubt zu wollen –, das hängt davon ab, wer sie ist.

    Ein Uni-Absolvent mit Schwerpunkt Konfliktlösung wird anders mit einem Geiselnehmer reden als jemand, der sein halbes Leben in einem Callcenter für aggressive Kunden verbracht hat. Der eine bleibt ruhig. Der andere kennt das Schweigen zwischen zwei Telefonklicks und weiß, wann jemand wirklich gefährlich ist.

    Ein Outdoor-Fan mit Taschenmesser im Stiefel und Erinnerungen an die kanadischen Wälder wird im Wald wahrscheinlich besser klarkommen als die Lektorin aus der Stadt, deren einzige Naturerfahrung ein wöchentlicher Spaziergang am urban bepflanzten Kanal ist.

    Aber – und jetzt wird’s schön – dreh das Ganze um: Die Waldgestählte, die noch nie ein Uber gerufen hat, scheitert an der U-Bahn. Der Mann vom Land, der glaubt, man müsse in der Großstadt einfach nur „aufgeschlossen“ sein, wird beim Bäcker ignoriert und beim ersten Date von einem QR-Code abgewiesen.

    Der Punkt ist: Jeder Mensch trägt sein Revier in sich. Und sein Unvermögen.

    Und wenn man das ernst nimmt – wirklich ernst –, dann werden Figuren plötzlich nicht nur real, sondern notwendig. Dann erzählen sie sich fast von selbst. Und wirft man genug Steine, verraten sie irgendwann, wer sie sind.

    Und dann, ja dann, kann man sie auch wieder vom Baum holen.

    Ob sie dabei gelernt haben, wie man klettert – oder wie man fällt –, das zeigt, ob die Geschichte ihre Mühe wert war.

    Wer wirft da eigentlich mit Steinen?

    Zeit, sich dem Widersacher zu widmen. Dem Schatten im Bild. Dem Sand im Getriebe.

    Denn ohne Gegenkraft kein Konflikt. Ohne Konflikt kein Drama. Und ohne Drama keine Geschichte, sondern bloß eine Folge von Ereignissen, die höflich nicken, aber nichts voneinander wollen. Damit etwas in Bewegung kommt – wirklich in Bewegung, mit Risiko, Schmerz und echtem Einsatz – braucht es jemanden oder etwas, das dagegenhält.

    Dieser Jemand (oder dieses Etwas) nennt sich: Antagonist. Und nein, das muss kein Schurke mit dunklem Mantel und zusammengekniffenen Augen sein. Es reicht, wenn es jemand ist, der das Ziel der Hauptfigur durchkreuzt – nicht aus Bosheit, sondern weil er oder sie schlicht ein anderes Ziel hat.

    Ein Antagonist ist dann am besten, wenn er gefährlich ist. Nicht im Sinne von: er hat eine Waffe. Sondern: er hat gute Gründe. Vielleicht sogar die besseren. Wenn er nicht bloß Hindernis ist, sondern Überzeugung. Und wenn es wehtut, ihm Unrecht zu geben.

    Aber – und das wird gern vergessen – der Antagonist muss nicht mal menschlich sein

    Manchmal ist es ein Hai. Manchmal ein Rudel Vögel. Manchmal das Meer, das nicht zurückweicht.

    Tiere können zu Helden wurden. Und zu Gegnern. Sie bellen, sie beißen, sie retten. Und sie halten auf.

    Oder denk an den alten Mann, der bei Hemingway gegen das Meer kämpft. Nicht gegen einen Bösewicht mit Monolog. Sondern gegen eine Kraft, die nichts will, nichts verzeiht und einfach da ist.

    Antagonisten können auch unsichtbar sein. Eine Krankheit. Ein inneres Zittern. Eine Idee, die nicht loslässt. Manchmal ist das, was eine Figur aufhält, kein Charakter, sondern ein Zustand. Ein Mangel. Eine Grenze, die niemand sieht, aber jeder spürt.

    Und plötzlich ist der wahre Gegner nicht der Mensch mit der Waffe, sondern das eigene Bein, das nicht mehr mitspielt. Die Stille, die zu laut wird. Der eigene Wunsch, der sich selbst im Weg steht.

    Das macht Geschichten so seltsam wahr: Der Gegner kann alles sein. Ein Tier. Ein Mensch. Ein Gedanke.

    Oder der Moment, in dem man erkennt, dass man sich selbst nicht mehr traut.

    Das Unmenschliche ernst nehmen

    Nicht alle Widersacher tragen Schuhe. Manche kriechen. Manche beißen. Manche rollen lautlos durch die Landschaft wie eine Ahnung. Und einige – das ist das Gemeine – wohnen in uns.

    Hier eine kleine Parade jener Kräfte, die in Geschichten zur Gegenspielerin werden können, ohne auch nur einmal „Ich bin dein Feind“ zu sagen:

    Ein Fluch, der sich nicht abstreifen lässt.
    Ein Haustier mit eigenen Absichten.
    Saurer Regen, der leise alles zersetzt.
    Luftverschmutzung, unsichtbar und allgegenwärtig.
    Außerirdische, die keine Einladung brauchen.
    Eine geistige Einschränkung, die nicht erklärt, sondern erlebt wird.
    Vögel – ja, Vögel – mit beunruhigender Zielstrebigkeit.
    Licht, das zu grell ist, um rein zu sein.
    Eine ansteckende Krankheit, die Nähe zur Waffe macht.
    Dunkelheit, die nicht nur das Sehen, sondern auch das Denken dämpft.
    Dürre, die die Zeit verlangsamt.
    Ein Staubsturm, der Erinnerungen ausradiert.
    Ein Erdbeben, das mehr als nur Häuser erschüttert.
    Hungersnot, die Moral biegt.
    Ein Nutztier, das plötzlich mehr weiß, als gut ist.
    Ängste, Phobien – still, giftig, stets bereit.
    Feuer, das keine Fragen stellt.
    Flut, die mitnimmt, was nicht festgeschraubt ist.
    Ein Hurrikan mit eigenem Taktgefühl.
    Insekten, die in Schwärmen denken.
    Tödliche Kältewellen, bei denen auch das Herz friert.
    Tödliche Hitzewellen, die selbst die Gedanken verdorren lassen.
    Ein Monster, das gar nicht weiß, dass es eins ist.
    Ein körperliches Handicap – und der Stolz, der sich daran wundreibt.
    Rasse oder ethnische Herkunft – nicht als Identität, sondern als Zuschreibung, die zur Waffe wird.
    Radioaktivität, die bleibt, lange nachdem man sie vergessen wollte.
    Ein Reptil mit gutem Gedächtnis.
    Ein Roboter, der rechnet – nur eben anders.
    Ein Nagetier mit narrativer Hartnäckigkeit.
    Ein Sandsturm, der ganze Absätze löscht.
    Ein Wesen aus dem Meer, das nicht fragt, ob es rein darf.
    Ein Geist – von wo auch immer – der nicht loslässt.
    Ein Sturm, der nicht aufhört, obwohl alle längst erschöpft sind.
    Das Meer selbst, groß, stumm, unbeeindruckt.
    Eine Flutwelle, schneller als jeder Plan.
    Ein Tornado, der keine Meinung braucht, um alles mitzunehmen.
    Ein Taifun mit eigener Dramaturgie.
    Ein Vulkanausbruch, der keine Metapher ist.
    Ein wildes Tier, das seinen Platz verloren hat.
    Ein wildes, aber fürsorgliches Tier – was oft komplizierter ist.

    Wer nun denkt, das seien bloß Elemente, irrt.

    Sie haben Eigenschaften. Absichten vielleicht nicht, aber Wirkung. Und Wirkung, so lehrt uns jede gute Geschichte, verlangt nach Verständnis.

    Deshalb: Auch nichtmenschliche Antagonisten (oder Protagonisten – manchmal ist der Löwe ja auch der Gute) brauchen eine Art Charakterbiografie. Nicht im Sinne von „Geboren in einem mittleren Staubwirbel, Ausbildung bei der Wetterfront West“. Sondern: Was treibt sie an? Was verändert sie? Wie reagieren sie auf Widerstand?

    Wenn wir sie ernst nehmen, hören sie auf, bloße Bedrohung zu sein. Dann werden sie Teil des Dramas.

    Oder umgekehrt:Das Drama wird Teil von ihnen.

    Was war zuerst da – die Figur oder das Schlamassel?

    Tja.
    Die alte Huhn-und-Ei-Frage, umgezogen in die Welt des Erzählens, trägt jetzt Jeans und sitzt rauchend über einem leeren Dokument.

    Kommt zuerst der Mensch – mit all seinen Falten, Widersprüchen, Lieben, Lastern, Schwächen – und sucht sich dann eine passende Katastrophe? Oder rollt zuerst die Handlung an wie ein Bus ohne Fahrer, und du fragst dich beim Zuschauen, wer da jetzt bitte noch mitfahren soll?

    Antwort: Kommt drauf an.
    Manchmal hast du eine Figur, die dir einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Jemand, der nachts anklopft, weil er nicht schlafen kann. Du weißt, wie er lacht. Was er nie zugeben würde. Was er verliert, wenn’s ernst wird. Und dann fragst du dich: In welcher Welt wird er sichtbar? Was muss um ihn herum geschehen, damit man ihn erkennt?

    Und dann, ein andermal, hast du eine Szene. Ein Unglück. Ein Mord vielleicht. Oder einen Lottogewinn zur Unzeit. Eine Situation, die nach jemandem schreit, der ihr nicht gewachsen ist – und gerade deshalb hineinrutscht. Dann beginnst du zu „bevölkern“. Und fragst dich: Wer wäre der denkbar falscheste Mensch für diesen Moment? Und was passiert, wenn er es trotzdem versucht?

    Klar ist:
    Egal, wo du anfängst – irgendwann braucht die Figur Tiefe. Sonst bleibt sie ein Pappkamerad, der Texte aufsagt, die jemand anderes geschrieben hat.

    Also: Wer ist sie? Wo kommt sie her? Was hat sie geprägt? Und was ist in ihr angelegt, das sie selbst noch nicht kennt?

    Nehmen wir also: Alex Martin. Kein Held. Kein Star. Aber einer, der bleibt, wenn andere schon gegangen sind.

    Geboren in einer alten Arbeiterstadt irgendwo zwischen Ostfrankreich und Westdeutschland, in einer Landschaft aus Backstein, Braunkohle und zu vielen Kreiselverkehrsanlagen. Die Eltern: einfach, ehrlich, überfordert. Gläubig, aber ohne Fanatismus. Streng, aber nicht ungerecht. Eine Kindheit, die nicht schreit, sondern summt.

    Ein Einzelkind, das nie wirklich allein war. Mit einem Vater, der sein Hemd bügelte, als wäre es ein Ritual. Einer Mutter, die versuchte, durch Kuchen etwas zu sagen, das sie nicht aussprechen konnte. Dazu ein Großvater mit Geschichten, die nie ganz stimmten, und ein Onkel, der abwechselnd geliebt und verflucht wurde.

    Schule? Ganz normal. Gymnasium mit Graffiti an der Wand und Aufsätzen über Goethe, die man googeln konnte. Später Uni – Soziologie, halbherzig. Dann: Wehrdienst, mehr aus Trotz als aus Pflicht. Und da lernte Alex fliegen. Und schießen. Und warten.

    In der Schule war er der, der nicht auffiel, bis es zu spät war. Einer, der lachte, wenn’s brenzlig wurde. Der sich mit Notlösungen durchs Leben hangelte, ohne zynisch zu werden.

    Er kennt sich aus mit Technik. Weiß, wie man durchhält. Ist jemand, der in der Wildnis überlebt – und in der Kantine des Konzerns auch.

    Seine schlechten Angewohnheiten? Zu schnell genervt. Zu langsam beim Abwasch. Ordnung? Nur im Kopf – und selbst da nicht immer.

    Charakterlich? Ehrlich. Charmant auf eine Weise, die man nicht merkt, bevor sie fehlt. Ein Träumer mit Flugangst. Optimistisch, aber nicht naiv. Ein bisschen zu stolz, um um Hilfe zu bitten, aber loyal bis zur Selbstaufgabe.

    Beziehungen? Eine Ehe, vorbei. Ein Kind, das er liebt, aber nur jedes zweite Wochenende sieht. Viele Freundschaften – aber keine, die ihn nachts anruft.

    Alex lebt allein. Kleine Wohnung, irgendwo am Rand einer Stadt, die schöner tut, als sie ist. Seine einzige Extravaganz: ein alter, restaurierter Sportwagen, der mehr Benzin braucht als Verstand.

    Und was machst du jetzt mit ihm?

    Du stellst ihn in einen Kriminalfall, bei dem er nichts zu suchen hat. Du lässt ihn zu spät kommen, zu wenig wissen, zu viel riskieren. Und dann schaust du zu, wie er wächst. Oder fällt. Oder beides zugleich.

    Denn Geschichten beginnen nicht immer dort, wo jemand stark ist. Sondern dort, wo jemand plötzlich gebraucht wird – und sich selbst noch nicht traut.

  • Was zwischen den Zeilen lauert (und warum es dort bleibt)

    Man sagt, jede Geschichte beginne mit dem ersten Satz. Das stimmt natürlich nicht. Sie beginnt viel früher – mit Dingen, über die niemand spricht, weil sie entweder zu banal oder zu schmerzhaft sind. Das nennt man dann: VORGESCHICHTE.

    Sie ist das, was man nicht laut sagen will, aber überall durchschimmert. Ein verstohlener Blick, eine Reaktion, die zu heftig ausfällt, eine Abneigung, die niemand erklären kann – außer, man kennt eben das Davor. Die Vorgeschichte ist wie eine schlecht gelöschte Datei: Sie ist offiziell weg, aber jeder Klick macht sie wieder sichtbar. Nur Narren erklären sie in epischer Breite. Die Klugen lassen sie durchblitzen – wie etwas, das versehentlich mitgewaschen wurde und nun still in der Trommel klappert.

    Und dann – ach ja – die ÜBERGÄNGE. Diese unterschätzten Wesen. Sie sind das, was dafür sorgt, dass die Geschichte nicht auseinanderfällt wie ein schlecht gefaltetes Zelt. Wer Übergänge meistert, kann zwischen zwei Szenen hinübergleiten wie ein guter Tänzer zwischen Songs. Manchmal deuten sie schon an, dass etwas nicht stimmt. Oder dass es bald krachen wird. Oder dass jemand etwas weiß, das er nicht wissen dürfte. Übergänge können subtil sein. Oder brutal. Hauptsache, sie fühlen sich nicht an wie: Schnitt. Neue Szene. Was war das denn jetzt?

    Und dann kommt der Moment, in dem etwas in Bewegung gerät. Nicht äußerlich. Innerlich. Das nennt man dann: STREBUNG. Ein schönes Wort. Es klingt nach Ziel, nach Drang, nach etwas, das leise beginnt und sich langsam durch jede Szene frisst. Figuren mit Strebung bewegen sich nicht, weil sie sollen, sondern weil sie müssen. Weil da etwas in ihnen arbeitet – ein Pflichtgefühl, ein Schatten, eine Wunde, die noch nicht aufgegangen ist.

    Mit jeder neuen Information, jeder verschobenen Dynamik, wächst diese innere Bewegung – bis sie irgendwann den Körper verlässt und zur Handlung wird. Und plötzlich steht da jemand und tut etwas, das er vor drei Kapiteln für undenkbar gehalten hätte. Nicht, weil er sich grundlegend verändert hat, sondern weil er sich selbst ernst nimmt.

    DRINGLICHKEIT, das ist die andere Schwester in dieser Familie. Sie kommt oft leise daher. Man spürt sie zuerst nicht. Aber irgendwann merkt man: Wenn das jetzt nicht passiert, ist es zu spät. Dringlichkeit ist kein Tumult. Sie ist ein leiser Countdown, der in den Szenen tickt, ohne dass jemand hinsieht. Und irgendwann fragt man sich: Warum ist mir gerade so flau?

    Weil alles kippen kann. Weil es eine Schwelle gibt. Und weil Figuren, wie wir alle, manchmal zu spät merken, dass sie längst auf sie zusteuern.

    Und dann – natürlich – die NEBENHANDLUNG.

    Es gibt die höfliche Variante: Parallelhandlung. Sie läuft mit, kommentiert, wirft Licht, sorgt für Witz oder Tiefe. Sie ist wie die Freundin, die bei einem Date plötzlich auftaucht, nicht stört, aber alles auflockert. Vielleicht will sie nur ein eigenes kleines Drama erleben. Vielleicht will sie nur da sein. Sie bleibt im Hintergrund – aber nicht ohne Wirkung.

    Und dann gibt es die andere. Die kreuzende.

    Sie kommt harmlos daher, tut so, als ginge sie niemanden etwas an – und dann, zack, steht sie mitten im Raum, will mitreden, mischt sich ein. Sie bringt alles durcheinander. Nicht aus Bosheit, sondern weil sie’s muss. Ihre Aufgabe ist nicht Ordnung. Ihre Aufgabe ist Unordnung mit Sinn. Sie sorgt für Brüche, für neue Perspektiven, für das, was man später „emotionale Tiefe“ nennt, obwohl man dabei eigentlich an einen Schlag in die Magengrube denkt.

    Am Ende zeigt sich: Keine gute Geschichte läuft glatt. Sie geht Umwege, baut Stolpersteine ein, erinnert sich an alte Wunden, bevor sie neue schlägt. Und manchmal führt eine Nebenhandlung dahin, wo die Hauptsache sich nicht hintraut.

    So ist das mit Geschichten. Sie wissen oft mehr, als sie sagen.

    Und sie sagen mehr, als sie wissen sollten.

  • Vom Auslöser zur Auflösung: Das innere Gerüst jeder Geschichte

    Natürlich, jeder halbwegs zurechnungsfähige Mensch, der sich ans Schreiben macht, trägt vorher eine Geschichte im Kopf herum. Oder wenigstens ein Gefühl. Ein Bild. Einen Satz, den jemand gesagt hat und der hängen blieb wie Zigarettenrauch in der Jacke. Die Frage ist nur: Hat diese Geschichte auch das Zeug, ein Buch zu werden? Oder ein Film, ein Fernsehspiel, eine Folge in dieser Serie, bei der alle behaupten, sie hätten sie schon gesehen, obwohl sie immer nur die Memes kennen?

    Der Aufhänger

    Zuerst: der Haken. Nicht der in der Kehle – der im Text. Der Moment, in dem jemand, der eigentlich nur kurz blättern wollte, plötzlich sitzt, liest, vergisst, dass die Bahn längst fährt. Professionelle Leser – Lektorinnen, Produzenten, Dramaturgen mit Augenringen aus Blei – haben keine Geduld für Nettigkeiten. Wenn du sie auf Seite zwanzig nicht hast, hast du sie gar nicht. Und normale Menschen? Die blättern kurz rein, legen das Buch zurück ins Regal und greifen zu irgendwas mit einem geheimnisvollen Mädchen am Fenster. Man kann es ihnen nicht verübeln.

    Also: Gib ihnen einen Grund, nicht weiterzublättern. Gib ihnen einen Aufhänger. Und sorg dafür, dass er hält.

    Die Beleidigung

    Und dann: die Beleidigung. Ein wunderbares Wort für das, was den Stein ins Rollen bringt. Es muss etwas passieren. Etwas, das die Welt der Figur aus dem Takt bringt – sie kratzt, stört, einbricht, entgleitet. Vielleicht wird sie bestohlen. Vielleicht angelogen. Vielleicht verliebt sie sich in jemanden, den sie nicht leiden kann. Der Klassiker: Junge trifft Mädchen, verliert Mädchen, kriegt sie wieder. Aber eben nicht, weil das Schicksal so ein Romantiker ist, sondern weil es Spaß daran hat, alles einmal gründlich durcheinanderzuschütteln.

    Das Auslösende kann geplant sein – „Ich zieh jetzt los und rette die Welt.“ Oder komplett zufällig – „Ich war nur zum Rauchen draußen, ehrlich.“ Wichtig ist: Die Geschichte nimmt Fahrt auf.

    Held und Widerspiel

    Wo ein Wille ist, ist auch ein Gegenspieler. Held und Antagonist brauchen beide einen Plan. Nicht notwendigerweise genial – aber klar. Und sie müssen einander damit in die Quere kommen wie zwei Leute mit Regenschirm in einem schmalen Hausflur. Jeder Schritt des einen provoziert einen Gegenschritt des anderen. Das erzeugt Bewegung. Widerstand. Und Reibung. Und Reibung – du ahnst es – erzeugt Wärme.

    Konflikt

    Ohne Konflikt kein Drama. Ohne Drama keine Geschichte. Ohne Geschichte – na ja, dann sind wir zurück bei Katzenvideos und Wetterberichten. Konflikt ist nicht bloß Streit. Es ist das Aufeinanderprallen von Kräften, die nicht gleichzeitig wahr sein dürfen. Das kann Mann gegen Frau sein. Oder Mensch gegen Berg. Oder Teenager gegen WLAN-Ausfall. Wichtig ist nur: Es zieht sich durch. Und es geht unter die Haut.

    Wendepunkte

    Dann kommen die Kurven. Die Wendepunkte. Das sind die Momente, in denen die Geschichte nicht einfach weitergeht, sondern plötzlich woanders hin will. Der erste sollte früh kommen – noch im ersten Akt, noch bevor man denkt: „Aha, darum geht’s.“ Der zweite und dritte Wendepunkt führen tiefer hinein – in Komplikationen, Zweifel, Verluste. Das Ziel entfernt sich. Und genau das ist gut. Denn nur wer sich verläuft, kann sich finden.

    Der Moment der Wahrheit

    Und irgendwann – meistens wenn’s wehtut – kommt der Moment der Wahrheit. Die Figur steht am Abgrund. Nicht bildlich. Sondern wirklich. Sie kann zurück. Oder springen. Aufgeben. Oder – und das ist der Punkt – sich erinnern, wer sie eigentlich ist. Oder wer sie hätte sein können. Und plötzlich wächst etwas in ihr, das nie laut war, aber immer da. Der Moment, in dem sie größer wird als ihr Schmerz.

    Nicht, weil sie sich verwandelt. Sondern, weil sie sich erinnert.

    Die Auflösung

    Am Ende kommt die Auflösung. Nicht immer glücklich, aber stimmig. Vielleicht hat die Figur bekommen, was sie wollte. Vielleicht erkennt sie, dass das, was sie wollte, gar nicht wichtig war. Vielleicht bleibt etwas offen – ein leiser Ton, ein schiefer Blick, ein Versprechen, das nicht mehr eingelöst werden kann. Aber etwas ist passiert. Es war nicht umsonst.

    Und wenn du das geschafft hast – den Bogen, die Beleidigung, den Konflikt, die Wendung, das Wachsen, das Loslassen – dann hast du nicht nur eine Geschichte erzählt.
    Du hast jemandem für einen Moment das Gefühl gegeben, dass alles einen Sinn ergibt. Wenn auch nur auf Seite 87.