Menschen!
Darum geht’s. Immer.
Du kannst dir die raffinierteste Handlung ausdenken, einen Thriller voller Wendungen, eine Komödie mit Gags im Sekundentakt oder ein Drama zum Augenausweinen – ohne Figuren, die uns interessieren, ist alles nichts als hübsch ausgeleuchtete Kulisse.
Wir kümmern uns nicht um Explosionen. Nicht wirklich. Wir kümmern uns darum, wer in die Luft fliegt. Und ob jemand um ihn trauert. Oder eben nicht.
Je eigenwilliger, widersprüchlicher, lebendiger deine Figuren sind, desto mehr wächst uns deine Geschichte ans Herz. Oder in den Magen. Oder ins Genick. Wo immer Geschichten sich eben festsetzen.
Ein kluger Autor – oder eine kluge Autorin, die gerade mit einer Zigarette am Fenster steht und sich fragt, warum sie wieder einen Tierarzt zur Hauptfigur gemacht hat – folgt den Figuren. Merken, wie sie abbiegen, ohne vorher Bescheid zu geben. Erleben, wie sie plötzlich Dinge tun, die im Treatment gar nicht vorgesehen waren. Und trotzdem – oder gerade deshalb – absolut stimmig sind.
Ein Akademiker denkt anders als jemand, der mit vierzehn die Schule abgebrochen hat, um in einer Autowerkstatt zu jobben. Eine Frau, die Reichtum nie hinterfragt hat, hat ein anderes Verhältnis zur Welt als eine, die sich beim Lidl über den halben Preis von Brot freut. Kindheit in einem liebevollen Zuhause? Macht was mit einem. Kindheit mit Angst in den Wänden? Auch. Und nicht dasselbe.
Deine Hauptfigur – nennen wir sie Anna oder meinetwegen Kai – muss nicht liebenswert sein. Zumindest nicht auf den ersten Blick. Sie kann rau sein, widerspenstig, verbohrt. Aber irgendwo da drin muss etwas liegen, das uns hoffen lässt. Ein glimmender Rest von Würde oder Sehnsucht oder Schuld.
Denn früher oder später kommt der Moment – dieser kleine Riss im Selbstbild – in dem die Figur entscheiden muss, was jetzt richtig ist. Und was sie wirklich will.
Oft gibt es eine zweite Hauptfigur. In die sie verliebt ist, ja, das klingt kitschig. Aber vielleicht ist es eher eine Ko-Abhängigkeit. Oder eine alte Freundin, die zu viel weiß. Oder jemand, der den Kaffee immer so geheimnisvoll umrührt. Diese Figur ist nicht Staffage, sondern Spiegel. Oder Sprengsatz. Sie verändert sich. Oder sie zwingt die Veränderung der anderen herbei.
Und dann – klar – ist da der Held. Oder die Heldin. Was aber nicht bedeutet: Cape, Muskeln, Moral im Hochglanzkarton. Nein. Die Hauptfigur darf Schwächen haben. Muss sogar. Sonst wird sie unerträglich.
Die Verletzlichkeit ist das, was zählt. Ob’s das gebrochene Herz ist, das in müden Gesten aufblitzt. Oder der Stolz, der sich nicht helfen lassen will. Oder diese leise Angst, dass man zu spät dran ist – mit dem Leben, der Liebe, dem Ankommen bei sich selbst.
Denn das macht sie menschlich. Und darum geht es doch:
Menschen.
Immer noch.
Trotz allem.
Die Kunst, jemanden auf einen Baum zu jagen
Stell dir vor, du setzt deine Hauptfigur auf einen Baum. Einen ziemlich hohen. Keine Leiter, kein Netz. Nur Äste, die knacken könnten. Dann nimmst du ein paar Steine. Keine riesigen Brocken – eher so moralische Kiesel, schicksalhafte Kieselsteine, kleine, scharfe Dinger mit Gewissen. Du wirfst sie. Nicht zu brutal, aber gezielt. Und am Ende, wenn alles wehgetan hat, holst du deine Figur wieder runter. Möglichst elegant. Oder wenigstens lebendig.
Das ist im Grunde alles, was Geschichtenerzählen verlangt.
Natürlich wird das Ganze interessanter, wenn der Baum nicht nur ein Baum ist. Sondern eine Scheidung. Oder ein Banküberfall. Oder die Tatsache, dass man seine Tochter nicht mehr erkennt, seit sie TikTok macht.
Was zählt, ist: Die Figur muss da hoch. Freiwillig oder wider Willen. Ob sie sich selbst ins Schlamassel bringt oder hereingerät wie jemand, der zur falschen Zeit am falschen Gleis steht, ist fast egal. Wichtig ist nur: Es wird unbequem.
Denn das ist der Stoff, aus dem Geschichten gemacht sind – nicht aus der bloßen Bewegung, sondern aus dem Widerstand gegen sie. Aus dem Scheitern, das einen Zweck bekommt.
Die Figur will etwas. Muss etwas wollen. Überleben. Geliebt werden. Endlich wieder schlafen. Vielleicht auch einfach nur ein Butterbrot mit dem richtigen Verhältnis aus Rinde und Krume.
Und wie sie es will – wie sie es sich erlaubt zu wollen –, das hängt davon ab, wer sie ist.
Ein Uni-Absolvent mit Schwerpunkt Konfliktlösung wird anders mit einem Geiselnehmer reden als jemand, der sein halbes Leben in einem Callcenter für aggressive Kunden verbracht hat. Der eine bleibt ruhig. Der andere kennt das Schweigen zwischen zwei Telefonklicks und weiß, wann jemand wirklich gefährlich ist.
Ein Outdoor-Fan mit Taschenmesser im Stiefel und Erinnerungen an die kanadischen Wälder wird im Wald wahrscheinlich besser klarkommen als die Lektorin aus der Stadt, deren einzige Naturerfahrung ein wöchentlicher Spaziergang am urban bepflanzten Kanal ist.
Aber – und jetzt wird’s schön – dreh das Ganze um: Die Waldgestählte, die noch nie ein Uber gerufen hat, scheitert an der U-Bahn. Der Mann vom Land, der glaubt, man müsse in der Großstadt einfach nur „aufgeschlossen“ sein, wird beim Bäcker ignoriert und beim ersten Date von einem QR-Code abgewiesen.
Der Punkt ist: Jeder Mensch trägt sein Revier in sich. Und sein Unvermögen.
Und wenn man das ernst nimmt – wirklich ernst –, dann werden Figuren plötzlich nicht nur real, sondern notwendig. Dann erzählen sie sich fast von selbst. Und wirft man genug Steine, verraten sie irgendwann, wer sie sind.
Und dann, ja dann, kann man sie auch wieder vom Baum holen.
Ob sie dabei gelernt haben, wie man klettert – oder wie man fällt –, das zeigt, ob die Geschichte ihre Mühe wert war.
Wer wirft da eigentlich mit Steinen?
Zeit, sich dem Widersacher zu widmen. Dem Schatten im Bild. Dem Sand im Getriebe.
Denn ohne Gegenkraft kein Konflikt. Ohne Konflikt kein Drama. Und ohne Drama keine Geschichte, sondern bloß eine Folge von Ereignissen, die höflich nicken, aber nichts voneinander wollen. Damit etwas in Bewegung kommt – wirklich in Bewegung, mit Risiko, Schmerz und echtem Einsatz – braucht es jemanden oder etwas, das dagegenhält.
Dieser Jemand (oder dieses Etwas) nennt sich: Antagonist. Und nein, das muss kein Schurke mit dunklem Mantel und zusammengekniffenen Augen sein. Es reicht, wenn es jemand ist, der das Ziel der Hauptfigur durchkreuzt – nicht aus Bosheit, sondern weil er oder sie schlicht ein anderes Ziel hat.
Ein Antagonist ist dann am besten, wenn er gefährlich ist. Nicht im Sinne von: er hat eine Waffe. Sondern: er hat gute Gründe. Vielleicht sogar die besseren. Wenn er nicht bloß Hindernis ist, sondern Überzeugung. Und wenn es wehtut, ihm Unrecht zu geben.
Aber – und das wird gern vergessen – der Antagonist muss nicht mal menschlich sein
Manchmal ist es ein Hai. Manchmal ein Rudel Vögel. Manchmal das Meer, das nicht zurückweicht.
Tiere können zu Helden wurden. Und zu Gegnern. Sie bellen, sie beißen, sie retten. Und sie halten auf.
Oder denk an den alten Mann, der bei Hemingway gegen das Meer kämpft. Nicht gegen einen Bösewicht mit Monolog. Sondern gegen eine Kraft, die nichts will, nichts verzeiht und einfach da ist.
Antagonisten können auch unsichtbar sein. Eine Krankheit. Ein inneres Zittern. Eine Idee, die nicht loslässt. Manchmal ist das, was eine Figur aufhält, kein Charakter, sondern ein Zustand. Ein Mangel. Eine Grenze, die niemand sieht, aber jeder spürt.
Und plötzlich ist der wahre Gegner nicht der Mensch mit der Waffe, sondern das eigene Bein, das nicht mehr mitspielt. Die Stille, die zu laut wird. Der eigene Wunsch, der sich selbst im Weg steht.
Das macht Geschichten so seltsam wahr: Der Gegner kann alles sein. Ein Tier. Ein Mensch. Ein Gedanke.
Oder der Moment, in dem man erkennt, dass man sich selbst nicht mehr traut.
Das Unmenschliche ernst nehmen
Nicht alle Widersacher tragen Schuhe. Manche kriechen. Manche beißen. Manche rollen lautlos durch die Landschaft wie eine Ahnung. Und einige – das ist das Gemeine – wohnen in uns.
Hier eine kleine Parade jener Kräfte, die in Geschichten zur Gegenspielerin werden können, ohne auch nur einmal „Ich bin dein Feind“ zu sagen:
Ein Fluch, der sich nicht abstreifen lässt.
Ein Haustier mit eigenen Absichten.
Saurer Regen, der leise alles zersetzt.
Luftverschmutzung, unsichtbar und allgegenwärtig.
Außerirdische, die keine Einladung brauchen.
Eine geistige Einschränkung, die nicht erklärt, sondern erlebt wird.
Vögel – ja, Vögel – mit beunruhigender Zielstrebigkeit.
Licht, das zu grell ist, um rein zu sein.
Eine ansteckende Krankheit, die Nähe zur Waffe macht.
Dunkelheit, die nicht nur das Sehen, sondern auch das Denken dämpft.
Dürre, die die Zeit verlangsamt.
Ein Staubsturm, der Erinnerungen ausradiert.
Ein Erdbeben, das mehr als nur Häuser erschüttert.
Hungersnot, die Moral biegt.
Ein Nutztier, das plötzlich mehr weiß, als gut ist.
Ängste, Phobien – still, giftig, stets bereit.
Feuer, das keine Fragen stellt.
Flut, die mitnimmt, was nicht festgeschraubt ist.
Ein Hurrikan mit eigenem Taktgefühl.
Insekten, die in Schwärmen denken.
Tödliche Kältewellen, bei denen auch das Herz friert.
Tödliche Hitzewellen, die selbst die Gedanken verdorren lassen.
Ein Monster, das gar nicht weiß, dass es eins ist.
Ein körperliches Handicap – und der Stolz, der sich daran wundreibt.
Rasse oder ethnische Herkunft – nicht als Identität, sondern als Zuschreibung, die zur Waffe wird.
Radioaktivität, die bleibt, lange nachdem man sie vergessen wollte.
Ein Reptil mit gutem Gedächtnis.
Ein Roboter, der rechnet – nur eben anders.
Ein Nagetier mit narrativer Hartnäckigkeit.
Ein Sandsturm, der ganze Absätze löscht.
Ein Wesen aus dem Meer, das nicht fragt, ob es rein darf.
Ein Geist – von wo auch immer – der nicht loslässt.
Ein Sturm, der nicht aufhört, obwohl alle längst erschöpft sind.
Das Meer selbst, groß, stumm, unbeeindruckt.
Eine Flutwelle, schneller als jeder Plan.
Ein Tornado, der keine Meinung braucht, um alles mitzunehmen.
Ein Taifun mit eigener Dramaturgie.
Ein Vulkanausbruch, der keine Metapher ist.
Ein wildes Tier, das seinen Platz verloren hat.
Ein wildes, aber fürsorgliches Tier – was oft komplizierter ist.
Wer nun denkt, das seien bloß Elemente, irrt.
Sie haben Eigenschaften. Absichten vielleicht nicht, aber Wirkung. Und Wirkung, so lehrt uns jede gute Geschichte, verlangt nach Verständnis.
Deshalb: Auch nichtmenschliche Antagonisten (oder Protagonisten – manchmal ist der Löwe ja auch der Gute) brauchen eine Art Charakterbiografie. Nicht im Sinne von „Geboren in einem mittleren Staubwirbel, Ausbildung bei der Wetterfront West“. Sondern: Was treibt sie an? Was verändert sie? Wie reagieren sie auf Widerstand?
Wenn wir sie ernst nehmen, hören sie auf, bloße Bedrohung zu sein. Dann werden sie Teil des Dramas.
Oder umgekehrt:Das Drama wird Teil von ihnen.
Was war zuerst da – die Figur oder das Schlamassel?
Tja.
Die alte Huhn-und-Ei-Frage, umgezogen in die Welt des Erzählens, trägt jetzt Jeans und sitzt rauchend über einem leeren Dokument.
Kommt zuerst der Mensch – mit all seinen Falten, Widersprüchen, Lieben, Lastern, Schwächen – und sucht sich dann eine passende Katastrophe? Oder rollt zuerst die Handlung an wie ein Bus ohne Fahrer, und du fragst dich beim Zuschauen, wer da jetzt bitte noch mitfahren soll?
Antwort: Kommt drauf an.
Manchmal hast du eine Figur, die dir einfach nicht mehr aus dem Kopf geht. Jemand, der nachts anklopft, weil er nicht schlafen kann. Du weißt, wie er lacht. Was er nie zugeben würde. Was er verliert, wenn’s ernst wird. Und dann fragst du dich: In welcher Welt wird er sichtbar? Was muss um ihn herum geschehen, damit man ihn erkennt?
Und dann, ein andermal, hast du eine Szene. Ein Unglück. Ein Mord vielleicht. Oder einen Lottogewinn zur Unzeit. Eine Situation, die nach jemandem schreit, der ihr nicht gewachsen ist – und gerade deshalb hineinrutscht. Dann beginnst du zu „bevölkern“. Und fragst dich: Wer wäre der denkbar falscheste Mensch für diesen Moment? Und was passiert, wenn er es trotzdem versucht?
Klar ist:
Egal, wo du anfängst – irgendwann braucht die Figur Tiefe. Sonst bleibt sie ein Pappkamerad, der Texte aufsagt, die jemand anderes geschrieben hat.
Also: Wer ist sie? Wo kommt sie her? Was hat sie geprägt? Und was ist in ihr angelegt, das sie selbst noch nicht kennt?
Nehmen wir also: Alex Martin. Kein Held. Kein Star. Aber einer, der bleibt, wenn andere schon gegangen sind.
Geboren in einer alten Arbeiterstadt irgendwo zwischen Ostfrankreich und Westdeutschland, in einer Landschaft aus Backstein, Braunkohle und zu vielen Kreiselverkehrsanlagen. Die Eltern: einfach, ehrlich, überfordert. Gläubig, aber ohne Fanatismus. Streng, aber nicht ungerecht. Eine Kindheit, die nicht schreit, sondern summt.
Ein Einzelkind, das nie wirklich allein war. Mit einem Vater, der sein Hemd bügelte, als wäre es ein Ritual. Einer Mutter, die versuchte, durch Kuchen etwas zu sagen, das sie nicht aussprechen konnte. Dazu ein Großvater mit Geschichten, die nie ganz stimmten, und ein Onkel, der abwechselnd geliebt und verflucht wurde.
Schule? Ganz normal. Gymnasium mit Graffiti an der Wand und Aufsätzen über Goethe, die man googeln konnte. Später Uni – Soziologie, halbherzig. Dann: Wehrdienst, mehr aus Trotz als aus Pflicht. Und da lernte Alex fliegen. Und schießen. Und warten.
In der Schule war er der, der nicht auffiel, bis es zu spät war. Einer, der lachte, wenn’s brenzlig wurde. Der sich mit Notlösungen durchs Leben hangelte, ohne zynisch zu werden.
Er kennt sich aus mit Technik. Weiß, wie man durchhält. Ist jemand, der in der Wildnis überlebt – und in der Kantine des Konzerns auch.
Seine schlechten Angewohnheiten? Zu schnell genervt. Zu langsam beim Abwasch. Ordnung? Nur im Kopf – und selbst da nicht immer.
Charakterlich? Ehrlich. Charmant auf eine Weise, die man nicht merkt, bevor sie fehlt. Ein Träumer mit Flugangst. Optimistisch, aber nicht naiv. Ein bisschen zu stolz, um um Hilfe zu bitten, aber loyal bis zur Selbstaufgabe.
Beziehungen? Eine Ehe, vorbei. Ein Kind, das er liebt, aber nur jedes zweite Wochenende sieht. Viele Freundschaften – aber keine, die ihn nachts anruft.
Alex lebt allein. Kleine Wohnung, irgendwo am Rand einer Stadt, die schöner tut, als sie ist. Seine einzige Extravaganz: ein alter, restaurierter Sportwagen, der mehr Benzin braucht als Verstand.
Und was machst du jetzt mit ihm?
Du stellst ihn in einen Kriminalfall, bei dem er nichts zu suchen hat. Du lässt ihn zu spät kommen, zu wenig wissen, zu viel riskieren. Und dann schaust du zu, wie er wächst. Oder fällt. Oder beides zugleich.
Denn Geschichten beginnen nicht immer dort, wo jemand stark ist. Sondern dort, wo jemand plötzlich gebraucht wird – und sich selbst noch nicht traut.