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  • Abkupfern …

    Man stelle sich vor: Da sitzt ein Autor, ein leeres Blatt vor sich, der Kaffee wird kalt, und plötzlich zuckt ein Gedanke durchs Hirn wie ein Stromstoß – ein anderer hat das doch auch schon mal so ähnlich erzählt. Und siehe da: stimmt. Wurde schon gemacht. Oft. Vielleicht besser. Vielleicht schlechter. Auf jeden Fall: bekannt.

    Was tun? Klauen? Natürlich nicht. Wer ungefragt Figuren, Szenen oder Dialoge übernimmt, begeht kein literarisches Kavaliersdelikt, sondern einfach – Plagiat. Und das gehört sich nicht. Punkt. Keine Diskussion.

    Aber – und jetzt wird’s interessant – es gibt so etwas wie eine Grauzone, in der aus einem alten Stoff ein neuer Ton wird. Eine Neuinterpretation. Ein Perspektivwechsel. Eine Adaption.

    Sich bedienen ist erlaubt. Sogar üblich. Solange man sich nur das Grundgerüst ausleiht, die Prämisse, das nackte „Was wäre, wenn…?“ – und daraus eine eigene Welt zimmert: mit anderen Figuren, anderen Konflikten, anderen Kulissen. Und, womöglich: anderem Ausgang.

    Man nehme: Romeo und Julia. Zwei Liebende, getrennt durch die Dummheit ihrer Umgebung. Gab’s schon. Wird’s wieder geben. West Side Story zum Beispiel – nichts anderes als Romeo mit Messern und Mambo.

    Oder Les Misérables. Die Story vom gejagten Mann, dem das Gesetz auf den Fersen ist, wurde neu geboren als Auf der Flucht, mit Harrison Ford, rasender Kamera und traurigen Augen.

    In einem anderen Klassiker rennt Liebe gegen religiöse Unterschiede an – heute neu gemixt mit Ethnie, Herkunft oder Gender. Funktioniert immer noch.

    Der erste Schritt: Finde eine Geschichte, die sich lohnt. Keine lahme Ente, sondern etwas mit Herz, Wucht oder zumindest einem unerhörten Gedanken. Klassiker sind ein guter Anfang. Die haben überlebt – und zwar aus gutem Grund.

    Dann wird’s spannend. Wie könnte man die Geschichte drehen?

    • Wechsel die Zeit: Vergangenheit, Gegenwart, Zukunft.
    • Wechsel den Ort: Metropole wird Dorf, Schloss wird Container, Steppe wird Mars.
    • Wechsel das Geschlecht: Aus dem Helden wird eine Heldin, oder etwas dazwischen.
    • Wechsel das Alter: Was, wenn Faust sechzehn ist – und Influencer?
    • Wechsel das Genre: Mach aus einem Drama eine Komödie, aus einem Krimi einen Liebesfilm.

    Der Kaufmann von Venedig? In Frankfurt, mit Hedgefonds statt Dukaten. Dr. Jekyll und Mr. Hyde? Als Chemie-Studentin im Jahr 2037, die sich per Pille ins andere Geschlecht transformiert.

    Du meinst, das klingt wild? Gut so.

    Hier ein kleines Kuriositätenkabinett an Stoffen, die sich immer wieder danach sehnen, neu gedacht zu werden:

    Don Quijote, Der Graf von Monte Christo, Faust, Die drei Musketiere, Alice im Wunderland, In 80 Tagen um die Welt, Frankenstein, Les Misérables, Lord Jim, Die Morde in der Rue Morgue, Das Bildnis des Dorian Gray, Wenn der Postmann zweimal klingelt, Tarzan, Der dritte Mann, Topper, Die Schatzinsel – die griechischen Tragödien …

    Und nun die Fragen, die du dir stellen solltest, bevor du losschreibst – neugierig, respektlos, spielerisch:

    • Wer ist mein neuer Protagonist? Mann? Frau? Kind? Teenager?
    • Wer ist der Antagonist? Ein System? Ein Mensch? Eine Erinnerung?
    • Was ist sein oder ihr neues Ziel? Was will diese Figur?
    • Wie könnte die Geschichte ganz anders enden?
    • In welcher Zeit könnte diese Geschichte ebenfalls funktionieren?
    • Und wo? Ländlich? Urban? In einem Land, das niemand kennt oder alle zu kennen glauben?

    Wenn du diese Fragen ernsthaft – und frei – beantwortest, ist aus dem alten Text kein Abklatsch geworden, sondern ein Echo. Kein Schatten, sondern ein Dialog. Und plötzlich – das Versprechen: Alles beginnt von vorn. Nur anders.

    Denn Geschichten sind keine Fossilien. Sie sind Tiere. Sie wandern. Sie verwandeln sich. Und manchmal – wenn du Glück hast – fangen sie wieder an zu atmen. Unter deiner Hand.

    Die Renaissance-Autoren, deren Ehrgeiz es war, die Antike nicht nur zu bestaunen, sondern sich einzuverleiben haben sich in dieser Hinsicht als Meister der Imitation erwiesen.

    Sie kopierten nicht, sie transformierten. Oder besser: Sie verinnerlichten so gründlich, dass das Wiedergekäute plötzlich wie Erstgeburt wirkte. Keine billige Kopie, kein blasses Echo – vielmehr ein neues Lied auf vertrauter Melodie. Petrarca, der alte Humanist mit Hang zur Rhetorik und zur Selbstinszenierung, bringt es ziemlich elegant auf den Punkt.

    Ein guter Nachahmer, sagt er, sollte seinem Vorbild ähneln, aber bloß nicht identisch mit ihm sein. Wie ein Sohn, der seinem Vater gleicht – nicht in jeder Falte, nicht in jedem Bartstoppel, aber doch irgendwie im Gang, im Blick, in dieser eigenartigen Art, das Wort „nun“ zu benutzen.

    Das Bild ist klug gewählt. Denn ein Porträtist – so Petrarca weiter – misst den Erfolg seines Werkes daran, wie genau es das Original trifft. Ein Imitator hingegen, der etwas von der Kunst versteht, weiß: Das Ziel ist nicht ein Spiegelbild, sondern eine Verwandlung. Eine Resonanz. Oder meinetwegen: eine geheime Zwiesprache.

    Die wirklich gelungene Nachahmung, so sein Credo, erkennt man nicht auf den ersten Blick – im besten Fall erkennt man sie gar nicht, sondern erfühlt sie nur, wie man manchmal den Einfluss eines Menschen auf einen anderen spürt, ohne genau sagen zu können, woran es liegt. Ein Hauch, ein Tonfall, ein kaum merklicher Knick in der Argumentation.

    Und hier, in dieser Forderung nach verborgener Ähnlichkeit, steckt vielleicht das eigentliche Kunststück: Dass das Geliehene sich so tief in den eigenen Stil einnistet, dass es nicht mehr wie ein fremdes Möbelstück im Zimmer steht, sondern wie ein Erbstück, das man irgendwann selbst zu tragen beginnt – mit Stolz und leichtem Unbehagen.

    Die Grenze zwischen Nachahmung und Plagiat? Sie liegt, wie so vieles, im Detail. Und in der Haltung. Wer imitiert, weil er liebt, wird irgendwann er selbst. Wer klaut, weil er’s eilig hat, bleibt ein Schatten. Und der lässt sich, bei aller Mühe, nicht literarisch aufhübschen.